Weltwoche Nr. 35.19 53
Bild: Natan Dvir (Polaris, Laif)
Vor zwei Wochen rief Dean Baquet, Chefre-
daktor der linksliberalen New York Times, eine
Krisensitzung ein. Denn er musste seine er-
regten Mitarbeiter beruhigen. Diese hatten
sich über eine Schlagzeile im Blatt empört,
laut der Präsident Trump nach dem Anschlag
in El Paso zu «Einigkeit gegen Rassismus»
auf gerufen habe. Dem Nachrichtenmagazin
Slate wurde ein Mitschnitt dieser 75-minüti-
gen Sitzung zugespielt.
So wollten die Mitarbeiter wissen, warum
man den Präsidenten und seine Politik nicht
als «rassistisch» bezeichnet habe. Ein Reporter
meinte sogar, dass Trump mit «Samthand-
schuhen» angefasst werde.
Baquet stellte dazu fest: «Unsere Leser und
einige unserer Mitarbeiter jubeln, wenn wir
uns Donald Trump vorknöpfen. Aber sie
schimpfen, wenn wir Joe Biden kritisieren.
Manchmal sollten wir so tun, als wäre Trump
nicht der gewählte Präsident, aber er wurde
nun mal gewählt. Unser Job ist es, Hinter-
gründe auszuleuchten und die Regierung
kritisch zu befragen.»
Cliff Levy, stellvertretender Chef vom
Dienst, schilderte, unter welchem Druck die
Redaktion steht: «Die Leute wollen Schlag-
zeilen, keine Nuancen. Sie wollen Schlagzeilen
wie etwa ‹Donald Trump ist ein Rassist› oder
‹Donald Trump ist ein Lügner›.»
Zur Anti-Trump-Strategie der New York Times
seit 2016 sagte Baquet weiter: «Kapitel eins der
Story von Donald Trump lautete nicht nur für
unsere Redaktion, sondern auch für unsere
Leser: Hatte Donald Trump unzuläs sige Bezie-
hungen zu den Russen, und wurde die Justiz
behindert? [.. .] Wir haben uns vor genommen,
diese Geschichte aufzuklären [.. .] Dafür haben
wir zwei Pulitzer-Preise gewonnen.»
«Vision für die nächsten zwei Jahre»
Zur nächsten Phase der Anti-Trump-Bericht-
erstattung sagte Chef Baquet: «Wir haben
diese Berichterstattung wirklich gut hinge-
kriegt. Nun geht es um ein anderes Thema, das
heisst, wir müssen uns neu aufstellen und
unsere Ressourcen umpolen [.. .] Wir müssen
intensiv über Leute recherchieren, die Hass
predigen. Aber wir müssen auch gründlicher
über Rasse und Klasse schreiben, als wir das
über Jahre getan haben. Wir müssen all unsere
Kräfte fantasievoll mobilisieren [.. .]» Baquet
fuhr gemäss dem Mitschnitt aus der Redak-
tionssitzung fort: «[.. .] Wie die Vision für die
nächsten zwei Jahre aussieht, habe ich schon
dargelegt: Wie schreiben wir über jemanden,
der solche Bemerkungen macht? Wie berich-
ten wir über die internationale Reaktion? Wie
kann das aus sehen, während wir gleichzeitig
über seine Politik berichten? Wie schreiben wir
über das Amerika, das Donald Trump so sehr
spaltet? Wie schreiben wir über das Rassen-
problem in einer durchdachten Weise, wie wir
das lange nicht getan haben? Das ist aus mei-
ner Sicht die Vision [.. .] und das werden wir in
den nächsten zwei Jahren leisten müssen.»
Die Rassenfrage werde im nächsten Jahr eine
zentrale Rolle spielen: «Ich meine damit nicht
nur die Afroamerikaner und ihr Verhältnis zu
Donald Trump, sondern auch Latinos und Ein-
wanderung [.. .]» Zu der Bezeichnung «rassis-
tisch» im Zusammenhang mit Trump war von
Baquet zu hören: «Bemerkungen, wie sie der
Präsident macht, erfasst man am besten, in-
dem man sie zitiert und den Zusammenhang
deutlich macht. Das ist viel aussagekräftiger,
als einfach nur ein bestimmtes Wort zu ver-
wenden [.. .] Dieses Wort verliert beim zweiten
oder dritten Mal seine Aussagekraft.»
A. G. Sulzberger, Herausgeber der New York
Times, sagte dazu: «Wir sind bei Etiketten zu-
rückhaltend [.. .] Solche Schlagwörter führen
genau zu dem, was wir nicht wollen. Die Leute
lesen nicht mehr, sie denken nicht mehr nach
[.. .] Auf diese Weise sorgen wir dafür, dass
manche Leser nicht hinschauen, was tatsäch-
lich mit welchen Auswirkungen passiert und
was das für das Land bedeutet.»
Ein Reporter meinte dazu: «Inwieweit soll-
ten Rassismus und white supremacy, die sozu-
sagen das Fundament Amerikas sind, unsere
Arbeit beeinflussen? Ich denke, es sollte ein
Ausgangspunkt sein [.. .] In allem steckt Ras-
sismus. Das sollten wir thematisieren, wenn
wir über Wissenschaft schreiben, über Kultur,
über das Land.»
Zur vermeintlich zurückhaltenden Bericht-
erstattung über Trump sagte ein Reporter
noch: «Mir macht es Sorgen, dass die Times der
Herausforderung des historischen Moments
nicht gerecht wird. Was ich von der Chefetage
gehört habe, ist eine konservative Haltung, die
den traditionell kritischen Journalismus der
Times verrät. Die Führung der NYT, vielleicht
in dem Bemühen, die Institution Times zu be-
wahren, lässt zu, dass das Blatt gelähmt und
schwach ist. Das trifft offensichtlich auf das
Thema Rassenfrage zu. Die Schlagzeile ‹Einig-
keit gegen Rassismus› verriet ein völliges
Ignorieren dessen, was wir alle wahrnehmen
[.. .] Ich bin mir nicht sicher, ob der Führung
der Times klar ist, welchen Schaden sie unse-
rem Ruf und unserem Ansehen zufügt, wenn
wir die Dinge nicht benennen, wie sie sind.»
Ein anderer Reporter ergänzte: «Die Leute
finden eine solche Schlagzeile – oder andere
Dinge, über die die New York Times berichtet –
problematisch, weil ihnen die Dinge am
Herzen liegen. Und sie brauchen die New York
Times. Sie sind darauf angewiesen, dass wir
Türen eintreten und wirklich hinschauen,
weil sie das im Moment so wollen. Es sind be-
unruhigende Zeiten.»
Erfundener Rassismus
Die New York Times diffamiert die Trump-Administration gezielt.
Das zeigt der Mittschnitt einer Redaktionssitzung des Blatts.
Von Amy Holmes
«Wir müssen all unsere Kräfte fantasievoll mobilisieren»: Chefredaktor Baquet.
Aus dem Englischen von Matthias Fienbork