Die Weltwoche - 29.08.2019

(Chris Devlin) #1
Weltwoche Nr. 35.19 55

Wie in einem Schraubstock: Schwinger Stucki mit Ehrendamen.


W

enn Stucki Chrigu in der Tür steht, wird
es dunkel. 198 Zentimeter Länge und 130
bis 150 Kilogramm Masse (je nach Trainings-
stand) werfen einen kolossalen Schatten. Sein
Gewicht allein kann die Gegner vor Ehrfurcht
erstarren lassen: «Es ist wohl nicht so einfach,
diese Masse zu bewegen», sagt der 34-jährige
Seeländer über sich selber. Sein Fitnesstrainer
Tommy Herzog attestiert ihm die Wasserver-
drängung eines Superhelden: «Christian muss
als Kind in einen Zaubertrank gefallen sein.
Noch bei keinem Sportler habe ich eine solche
Urkraft gesehen.»
Davon hatte sich am vergangenen Wochen-
ende in Zug der 22-jährige Entlebucher Joel
Wicki zu überzeugen. Im Schlussgang des
Eidgenössischen lag er im Sägemehl, bevor der
Kampf richtig begonnen hatte – begraben un-
ter dem neuen Giganten des Nationalsports.
Die Gralshüter der Schwingerei jubeln über
Stuckis Erfolg. Zwar hätten sie ebenso gern
den medien- und werbescheuen Jungspund
Samuel Giger auf dem Thron gesehen, doch
mit Stuckis Triumph kehrt das Schwingen zu
seinen Wurzeln zurück. Nicht ein Kämpfer
mit Leistungsdiagnostik, Trainingsmethodik
und exaktem Diätplan steigt auf den Thron,
sondern ein Mann, der sich selber als «Gmüets-
moore» bezeichnet, nach Feierabend gerne ein
Bier trinkt und in den letzten beiden Jahren
neben eigenen Erfolgen im Sägemehl als Fan
die beiden YB-Meistertitel feierte.
Wer den zweifachen Familienvater aber mit
eidgenössischer Sozialromantik und urhelve-
tischem Traditionsbewusstsein gleichstellt,
liegt falsch. Nach Jörg Abderhalden war Stucki
2008 der zweite Schwinger, der sich dem ame-
rikanischen Sportrechtevermarkter IMG an-
schloss. Seit 2015 steht er beim früheren Rad-
profi und ehemaligen IMG-Manager Rolf Huser
unter Vertrag. Dieser sagt über sein Schwer-
gewicht: «Christian ist bodenständig, authen-
tisch und humorvoll.» Swissness sei im globa-
len Sportmarketing immer mehr gefragt, und
Stucki entspreche diesem Aspekt perfekt.

Schuhgrösse 51
Bei einem Charakter wie Stucki bestehe die
Rolle des Managers darin, den Schwinger vor
sich selber zu schützen, sagt Huser: «Chrigu ist
grosszügig und gutmütig, er würde wohl fast
jede Anfrage annehmen.» Unter Husers Fitti-
chen kostet eine Autogrammstunde 5500 Fran-
ken. So bedient Stucki nicht nur die Sehnsüchte
der Sägemehltraditionalisten, sondern auch die
Interessen seiner Sponsoren (Lidl, Iveco, Do-
lor- X, Quickline). Gleichwohl geht er als Auslie-

Ikone der Woche


König Chrigu I.


Von Thomas Renggli

ferer eines Fleischproduzenten noch immer
einer geregelten Arbeit nach: «Das verschafft
mir einen wichtigen Ausgleich», sagt er.
Christian Stucki ist mit 34 Jahren der älteste
König in der Historie des Schwingsports. Dabei
war er seinen Alterskollegen rein körperlich
schon immer voraus. Mit zehn hatte er Schuh-
grösse 44, mit vierzehn schon 48 – heute trägt er
die 51. Weil er keine passenden Schuhe fand,
musste er das Fussballspielen aufgeben. So
entdeckte er die Leidenschaft fürs Schwingen.
Eine schlechte Nachricht für die Konkurrenz.
Sein früherer Trainingspartner Roger Brügger
beschreibt das Gefühl, wenn Stucki zupackt:
«Es ist wie in einem Schraubstock.»
Linear verlief der Aufstieg zum König nicht.
2005 erkrankte Stucki an einer heimtücki-
schen Virusinfektion am linken Bein. Was mit
einem einfachen Bluterguss begann, führte zu
einer klaffenden Wunde und mehreren
Hauttransplantationen. Es drohte die Am-
putation. Viereinhalb Monate lag Stucki im
Spital. Sechzehn Monate lang konnte er weder

arbeiten noch schwingen. Die schwere Zeit
habe ihn geprägt, sagte er später. Er nehme
vieles gelassener, geniesse das Leben mehr als
früher. Er wolle nicht nur «chrampfen» und
im Schwingkeller schwitzen.
Just diese Lockerheit hemmte den gelernten
Forstwart in seiner sportlichen Entwicklung.
Zwar gewann er 2008 den prestigeträchtigen
Kilchberg- und 2017 den Unspunnen-Schwin-
get. Aber am Eidgenössischen klebte ihm das
Pech an den Händen. 2013 unterlag er im
Schlussgang hauchdünn seinem Kollegen
Matthias Sempach. Wie Stucki damals im
Moment seiner grössten Niederlage dem Riva-
len einen Kuss auf die Stirn drückte, machte
ihn zum König der Herzen.
Zuletzt kämpfte Christian Stucki gegen die
Zeit. Als 34-Jähriger gehört man in der athle-
tischer werdenden Schwingerszene zu den
Auslaufmodellen. Christian Stucki engagier-
te einen neuen Fitnesscoach (Tommy Herzog)
und stellte die Ernährung um. Die verbesser-
te körperliche Verfassung ist augenfällig. So
räumte Stucki im Schlussgang von Zug alle
Zweifel aus der Welt. Und dies soll noch lange
nicht sein letzter Plattwurf gewesen sein.
«Roger Federer ist auch im Alter von 38 noch
Weltklasse», erklärt Manager Rolf Huser.

Wie er damals dem Rivalen einen
Kuss auf die Stirn drückte, machte
ihn zum König der Herzen.
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