Die Weltwoche - 29.08.2019

(Chris Devlin) #1

56 Weltwoche Nr. 35.19
Bilder: VG Bild-Kunst, Bonn 2017 (Klassik Stiftung Weimar); 2019, ProLitteris, Zürich (Kunstmuseum Bern)


A

ls am 19. Juli  1937 in München die Natio-
nalsozialisten ihre erste Ausstellung unter
dem Titel «Entartete Kunst» eröffneten, fan-
den sich darin auch zwei Grafiken des Schwei-
zer Künstlers Johannes Itten. Ins gesamt 33 Wer-
ke des Berners waren zuvor aus deutschen
Museen beschlagnahmt und als entartet taxiert
worden. In der Folge verlor Itten seine Stelle als
Direktor der staatlichen Textilfachschule in
Krefeld; seine eigene Kunstschule, die berühm-
te Itten-Schule in Berlin, war schon 1934 ge-
schlossen worden. Der Künstler floh in die Nie-
derlande, danach weiter nach Zürich, wo er
Direktor der Kunstgewerbeschule wurde und
das hochangesehene Museum Riet-
berg gründete.
Jetzt, achtzig Jahre nachdem die
Deutschen Itten vertrieben haben,
kommt der Schweizer erneut von
deutscher Seite unter Beschuss: Er
sei ein Verbreiter rassistischer
Theorien gewesen. Unter dem Titel
«Manisch arisch» kritisiert das
Nachrichtenmagazin Der Spiegel ins-
besondere das Kunstmuseum Bern,
das demnächst eine Itten-Ausstel-
lung eröffnet. «Nun kommt er [It-
ten], ein wenig weisser gewaschen,
endgültig [in der Schweiz] an», so
das Fazit des Artikels, der vor mora-
lischer Selbstgerechtigkeit nur so
strotzt.
Was ist an der Sache dran? Weshalb ist Itten
in Deutschland eine dermassen grosse Reiz-
figur, dass in München sogar eine nach ihm
benannte Strasse nach Protesten wieder um-
benannt wurde?
Diese Frage ist nur in Anbetracht der spek-
takulären Lebensgeschichte Ittens zu be-
antworten. Als einfacher Bergbauernbub aus
dem Berner Oberland, schaffte er den Auf-
stieg zum Professor («Meister») am weltbe-
rühmten Bauhaus in Weimar, dem Mekka der
Kunst-Avantgarde. Bis heute wird an Kunst-
hochschulen weltweit nach Ittens Methode
unterrichtet, seine Farbenlehre gilt nach wie
vor als massgebend.
Der Künstler hatte aber auch seine fragwür-
dige Seite, war er doch nicht nur einer der
wichtigsten Kunstpädagogen seiner Zeit, son-
dern auch eine Art Guru, der mönchsartig auf-
trat und eine Veredelung der menschlichen
Rasse anstrebte.
Johannes Itten wurde am 11. November 1888
als Sohn eines Bergbauern und Dorfschul-


lehrers in Süderen-Linden bei Thun geboren.
Ittens Kindheit hört sich an wie aus einer
furchterregenden Gotthelf-Schilderung. Der
Vater starb, als Johannes vier Jahre alt war, sein
jüngerer Bruder drei Jahre später. Der Alltag
war enorm hart. «Tagelang allein auf Weiden,
in den Wäldern und Felsen, die Ziegen hütend,
mit acht, neun und zehn Jahren den Tag über
arbeitend wie ein Knecht, weil der Stiefvater es
grausam verlangte», heisst es in seinen Me-
moiren. Mit dem Sonnenaufgang begann die
Arbeit auf dem Feld und im Stall, dann eine
Stunde Schulweg, Unterricht, im Anschluss
bis spätabends weiterschuften. «In der Schule
taugte ich nichts. Ich war zu müde,
und oft schickte mich die Lehrerin
nach oben in ihre Wohnung zum
Schlafen.» Liebe habe er in seiner
Kindheit keine erfahren. «Der Stief-
vater war erbarmungslos.»
Mit zehn Jahren zog er nach Thun
zu seinem Onkel, einem Betrei-
bungsbeamten und Bürgerrats-Prä-
sidenten. Er sollte Lehrer werden,
wie sein Vater. Auch in Thun wurde
Itten nicht glücklich. Er war ein-
sam, ein Aussenseiter.
Pflichtbewusst ging er den für ihn
vorgezeichneten Weg. 1904 begann
er die Berufsausbildung am staat-
lichen Lehrerseminar Hofwil bei
Bern. Das Internat war für ihn eine
Befreiung. Itten lernte Klavier spielen, erlag der
Schönheit der Musik Johann Sebastian Bachs,
kam mit Kunst in Berührung. Einer seiner
Lehrer war Hans Klee, der Vater Paul Klees, der
später zum wichtigen Weggefährten wurde.
Itten nahm seine erste Stelle als Primarleh-
rer an. Der Beruf gefiel ihm, trotzdem hörte er
nach eineinhalb Jahren plötzlich auf. In der
Nacht soll er eine Eingebung gehabt haben, an
der Ecole des beaux-arts in Genf Kunst zu stu-
dieren. Gleich am folgenden Tag kündete er
seine Stelle.
Das Studium war eine Riesenenttäuschung.
Ständig musste er Gipsmodelle abzeichnen,
totes Material. Exaktheit war alles, Empfin-
dung nichts. «Es war deprimierend.» Der
Mann, der später zu einem der wichtigsten
Kunstpädagogen des 20. Jahrhunderts wurde,
erfuhr, wie Kunstausbildung gerade nicht
funktionieren sollte. Er brach das Studium ab,
wechselte an die Universität Bern, wo er das
Sekundarlehrer-Diplom in Mathematik und
Naturwissenschaften erwarb.

Kunst


In höheren Sphären


Er schaffte es vom Bauernbub zum Meister am Bauhaus, dem Mekka der Kunst-Avantgarde.


Unter Hitler galten seine Bilder als entartet. Nun wirft der Spiegel dem Schweizer Künstler Johannes Itten


vor, ein Rassist gewesen zu sein. Was ist da dran? Von Rico Bandle


Auf einer Studienreise durch Deutschland
und die Niederlande lernte er Bilder von
Avantgardekünstlern wie van Gogh, Cézanne,
Gauguin und Picasso kennen. Dies beförderte
den Entschluss, sich doch wieder der Kunst
zuzuwenden. Itten zog nach Stuttgart, lernte
bei Adolf Hölzel. 1916 siedelte er um nach
Wien, nahm Schüler an, um sich den Lebens-
unterhalt zu verdienen – und hatte damit un-
geahnten Erfolg.
1919 holte ihn Walter Gropius nach Weimar
ans neugegründete Bauhaus. Itten wurde
Chefl ehrer einer der wichtigsten Kunstschu-
len der Avantgarde. Seine am Bauhaus einge-
führten pädagogischen Konzepte waren revo-
lutionär, einzelne Aspekte daraus haben bis
heute Bestand – so etwa der von ihm einge-
führte Vorkurs, ein Einführungsjahr, in dem
die Studenten unabhängig von der später ge-
wählten Fachrichtung an ihrer Persönlich-
keitsbildung arbeiten und lernen, ihre Fähig-
keiten und Neigungen zu erkennen.
Für Itten hatte Kunst weniger mit exaktem
Handwerk zu tun als mit Empfindung und
Rhythmus, mit Spiritualität und Menschwer-
dung: Kunst war für ihn Teil eines grossen
Ganzen, ein Mittel, um in höhere Sphären zu
gelangen, ja gar um die ganze Spezies weiter-
zuentwickeln.
Das tönt nicht nur sektiererisch, das war es
zu einem gewissen Teil auch. Itten war Anhän-
ger der Mazdaznan-Bewegung, einer Selbst-

Grosses Ganzes: «Ländliches Fest» (1917).

Geistige Ebenen:
«Turm des
Feuers» (1920).
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