Die Weltwoche - 29.08.2019

(Chris Devlin) #1

Weltwoche Nr. 35.19 61


ihren Beruf nicht aufgeben wollen –, und Kon­
taktsuche, wenn’s nicht ein Quickie sein soll,
auch nicht so einfach ist – so what? Dass die Män­
ner alle Schafsnasen sind, ist auch kein Humor­
Neuland. Das Schlaumeiernde fängt beim Titel
an. Pfiffig sollen die «fruchtbaren Jahre» wir­
ken und wohl an Oswalt Kolle erinnern, den
Aufklärer der sechziger Jahre. Der abgeklärte
Zeitgenosse kann dann darüber irre ablachen.
Natascha Beller ist Co­ Autorin der SRF­
Comedy­Sendung «Deville Late Night». Für ihr
Spielfilmprojekt erhielt sie keine Fördergelder,
weder von der SRG noch vom Bund, noch von
Stiftungen. So habe die Zürcher Filmstiftung
das Drehbuch sogar zweimal abgelehnt. Wie
auch immer. Natascha Beller kann inszenieren
und hat ein prima Ensemble gefunden – und
genau damit entlarvt ihr Film das wahre
Di lemma des Schweizer Filmschaffens: den
akuten Mangel an soliden Drehbuchautoren
und ­autorinnen. HHH✩✩


Weitere Premieren


The White Crow _ Engnisse, Einschränkun­
gen wie in der Sowjetunion üblich, waren
nichts für den Hagestolz Rudolf Nurejew. In ei­
nem Zug der Transsibirischen Eisenbahn 1938
auf die Welt gekommen, entdeckte er früh die
Lust am Tanzen und verweigerte sich bald der
konventionellen Rolle des Tänzers: bloss Hebe­
figuren für die Ballerinen auszuführen. Mit
herrischem Selbstbewusstsein bestand er auf ei­
genständige Soli. Die Lehrer hielt er alle für
mittelmässig. Erst als ihn der Leningrader Bal­
lettmeister Alexander Puschkin unter seine Fit­
tiche nahm, konnte er seine Kreativität frei ent­
falten, wurde aber auch immer mehr zur Diva, die
sich von niemandem etwas vorschreiben liess –
auch nicht von den Polit­Apparatschiks, die ihn
für die sowjetische Propaganda einsetzten. Sei­
ne Dreistigkeit und Unerschrockenheit, und
weniger sein Tanz, stehen im Mittelpunkt der
dritten Regiearbeit des britischen Mimen
Ralph Fiennes («Schindler’s List»). Basierend
auf dem Roman «Rudolf Nureyev: The Life»
von Julie Kavanagh, schrieb David Hare («The
Hours») das Buch, das Fiennes erratisch, zuwei­
len fast steril, umsetzt. Mit dem ukrainischen
Tänzer Oleg Iwenko als Nurejew gelang ihm
ein Coup, aber die Tanzszenen bleiben rudi­


mentär. Im Mittelpunkt stehen Freiheitswille
und Dickköpfigkeit, die Iwenko mit grosser
Leinwandpräsenz verkörpert (Nurejew hatte
sie nicht, wie in «Valentino» von 1977 zu besich­
tigen ist). Fiennes spielt Puschkin als radikales
Gegenstück: gehemmt, leise; ein Ballettmeis­
ter, der sich in der «Enge» arrangiert hat. «The
White Crow» (russisch für «Ausreisser») ist
kein Biopic, erzählt nichts von Nurejews tiefem
Sturz (1993 starb er an den Folgen von Aids).
Höhepunkt ist die Flucht in den Westen, ein
grossartiges Thriller­Finale, das hitchcocksche
Züge trägt: Der KGB, der Nurejew 1961 in Paris
begleitete, versuchte ihn am Flug nach London
zu hindern und am Flughafen Le Bourget
zurück nach Moskau zu schaffen. Mit der Hilfe
einer Pariser Freundin und der französischen
Polizei gelang Nurejew die Flucht. HHH✩✩

Angel Has Fallen _ Diesmal fällt der Super­
Schutzengel (Gerard Butler) des US­Präsiden­
ten (Morgan Freeman) in der «Has Fallen»­
Reihe sehr, sehr tief. Alle, alle, alle verdächtigen
ihn eines Mordversuchs am Präsidenten. FBI,
CIA und andere Security­Klubs machen Jagd
auf ihn. Eine gigantische Baller­Zwickmühle,
in der er da steckt. Schwachsinnige Story, aber
unterhaltsam. HHH✩✩

Jazz


Brahms,


durchleuchtet


Von Peter Rüedi

D

er Jazz kennt kein Reinheitsgebot. Aus­
gangspunkt können volksmusikalische
Quellen sein, Blues­Roots unterschiedlicher
Ursprünglichkeit, afrokaribische Vorlagen,
weltweit ein­ und angeborene Musiktradi­
tionen, verschiedenste trivialmusikalische
Quellen der amerikanischen Unterhaltungs­
kultur (die sogenannten Standards des «Great
American Songbook»). Und selbstverständ ­
lich unterschiedlichste Assonanzen an die
«klas sische» europäische Musiktradition, von
Jacques Loussiers Bach­plus­Rhythm­Section
über Gil Evans’/Miles Davis’ tiefsinnige «Porgy
and Bess»­Variationen bis zu Ellingtons Suiten­
Spätwerk, you name it: erzwungene Fusionen, in
welchen die Vorlagen Vorwand bleiben, und
solche, bei denen die klassische Vorlage und die
Interpretation aus langerfahrener Jazztradi­
tion eine in der andern gleichwertig irisierend
und irritierend durchscheint. So in der Aus­
einandersetzung der Sängerin Lia Pale und des
Pianisten/Arrangeurs Mathias Rüegg mit ro­
mantischem Liedgut.
Nach Schuberts «Winterreise» und einem
Album mit Liedern Schumanns legen sie als
Schlussstein einer Trilogie ihre Lesart (in engli­
scher Sprache) von fünfzehn Brahms­Liedern
vor. Bei allen schönen Soli von Joris Roelofs,
Ingrid Oberkanins und Hans Strasser keine
«Verjazzungen», sondern geistreiche Arrange­
ments nahe an den Originalen und dennoch in
kluger Distanz zu ihnen. Was heisst: Die Vor­
lagen kippen in Pales gerader, fein vibrierender
Stimme nie ins Sentimentale, auch wenn sie,
zumal die Texte von Eichendorff, Sehnsucht
nach verlorenen Heimaten nahelegten.
Mathias Rüegg hat bereits 1993 in einem
Album seines Vienna Art Orchestra erstmals auf
einige Schubert­Hits reagiert. Bei Schumanns
Liedern faszinierten ihn die endings und die teil­
weise weit vorausgreifende Harmonik. Brahms
nun, sagt er, gehe rhythmisch am weitesten
und eine besondere Herausforderung seien
seine einfach­genialen Kinder­ und Volkslieder.
Die Durchleuchtung von Liedern wie «Heiden­
röslein», «Sandmännchen» oder «Mondnacht»
bereitet grosses Vergnügen. Und macht Lust
auf einen Vergleich mit den Originalen.

Lia Pale: The Brahms Song Book.
Arranged by Mathias Rüegg.
Freiheitswille: Oleg Iwenko als Nurejew. Lotus Records LR 19052CD


Knorrs Liste
1 Toy Story 4 HHHHH
Regie: Josh Cooley
2 Parasite HHHHH
Regie: Bong Joon­Ho
3 Once Upon a Time in Hollywood HHHH✩
Regie: Quentin Tarantino
4 La chute de l’empire américain HHHH✩
Regie: Denys Arcand
5 Yesterday HHHH✩
Regie: Danny Boyle
6 Spider-Man: Far from Home HHHH✩
Regie: Jon Watts
7 Dolor y gloria HHHH✩
Regie: Pedro Almodóvar
8 The Lion King HHHH✩
Regie: Jon Favreau
9 La paranza dei bambini HHH✩✩
Regie: Claudio Giovannesi
10 Blinded by the Light HHH✩✩
Regie: Gurinder Chadha

Gigantische Baller-Zwickmühle: Butler, Freeman.
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