SEITE 12·MITTWOCH, 4. SEPTEMBER 2019·NR. 205 Feuilleton FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG
G
ipsabgüsse sind eine Art, der
Kunst zu huldigen; Ausstel-
lungen sind eine andere. Die
einen betreiben den Kult des
Originals durch seine Repro-
duktion, die anderen durch seine Zur-
schaustellung. Eine Ausstellung über die
Berliner Gipsformerei, wie sie die Staatli-
chen Museen in der gerade eröffneten
James-Simon-Galerie auf der Museums-
insel zeigen, wäre deshalb eine gute Gele-
genheit gewesen, über das Verhältnis von
Aura, Marktwert und Originalität nachzu-
denken. Die Gipsformerei wurde 1819
von Friedrich Wilhelm III. als gewinnori-
entiertes Unternehmen gegründet, und
so funktioniert sie bis heute. Das Landes-
denkmalamt verzeichnet die Werkstät-
ten in Charlottenburg als „Fabrikations-
gebäude“. Auf ihrer Website kann man
„Berühmtheiten der Weltkunst“ online
bestellen: eine bemalte Kopie der
Nofretete für 8900 Euro, eine
Laokoongruppe für 48 900,
ein altindisches Liebes-
paar für 290, eine
ägyptische Katzen-
statuette für 490
Euro. Die Versand-
kosten, heißt es,
könnten „erst nach
Ende der Fertigung
verbindlich ermit-
telt werden“. Stoff ge-
nug für Fragen an die
Produzenten der Ab-
güsse, ihre Preiskalku-
lation, ihre Traditionen,
ihre ästhetischen Krite-
rien und ihr handwerkli-
ches Ethos.
Die Ausstellung „Nah
am Leben“ stellt sie nicht.
Sie stellt andere Fragen, die
mit der Gipsformerei nur be-
dingt zu tun haben, Fragen
zum Gebrauchswert, zur Rea-
litätsnähe, zum Kolonialis-
mus, zur Kunstpädagogik und
zur zeitgenössischen Plastik.
Es sind Gesichtspunkte, die na-
heliegen, wenn man sich über-
legt, wie man ein Thema interes-
sant machen kann, aber diese
Überlegung impliziert, dass das
Thema an sich eher langweilig ist.
Von den sechs Abteilungen der Ausstel-
lung widmet sich nur eine der Gipsforme-
rei im engeren Sinn. Sie zeigt, gleich am
Eingang des Saals, einen Werkstatt-Quer-
schnitt: eine Juno Ludovisi, eine Nofrete-
te, einen Apoll aus Olympia und einen
aus Kassel, zwei Köpfe aus Benin, den
Moses von Michelangelo, die Büste des
Niccolò Strozzi nach Mino da Fiesole
und anderes mehr. Aber hier soll der Be-
sucher nicht stehen bleiben, die Ausstel-
lung drängt ihn weiter, sie will über Still-
leben und Totenmasken räsonieren, über
erlaubte und unerlaubte, von Ethnologen
in deutschen Kolonien gefertigte Abgüs-
se, über „Abgussverdacht“ in der klassi-
schen Kunst und über Reproduktion als
Kunstmittel in der Moderne.
Dazu hat die Kuratorin Veronika To-
cha Leihgaben aus Berliner und anderen
Museen, Fotografien aus Privatsammlun-
gen und Werke von heutigen Künstlern
zu den Exponaten aus der Gipsformerei
dazugestellt. Das ist beglückend, wenn
man die Abformungen menschlicher
Gliedmaßen, die in Charlottenburg ent-
standen sind, auf Adolf Menzels Gemäl-
de „Atelierwand“ von 1852 wiederent-
deckt, und augenöffnend, wenn Gipsköp-
fe von Ebern und Panthern mit einem
Kopf des Eisbären Knut aus dem
3D-Drucker des Leibniz-Instituts für
Zoo- und Wildtierforschung und einer
mit emaillierter Kleinfauna geschmück-
ten Prunkschale des Renaissancekünst-
lers Bernard Palissy kombiniert werden.
Aber es grenzt ans Makabre, wenn die
Totenmasken von Liszt, Wagner, Bruck-
ner, Lessing und Dante auf Abgüsse
zweier Männer und eines Kettenhundes
aus der Asche des Vesuvs in Pompeji tref-
fen.
Vor allem geht in all der Fülle der Ex-
kurse der zentrale Punkt des Gipsformer-
Handwerks verloren: die Vervielfältigung
des Einmaligen, die Kopie des Unikats. In
Dostojewskijs Roman „Die Dämonen“
streiten Anarchisten und Ästheten dar-
über, ob Raffaels Sixtinische Madonna
mehr wert sei als ein Paar Stiefel. Vor dem
Abguss des Laokoon aus der Gipsformerei
könnte man jetzt darüber nachsinnen, ob
der Kunstwert der Kopie nicht ebenso
groß ist wie der des Originals. Als Rodin
sein „Ehernes Zeitalter“ 1876 vorstellte,
wurde er beschuldigt, die Bronzeplastik
von seinem Modell abgeformt zu haben.
Als Antwort zeigte er den Kritikern ein
Foto des Modells. Donatello, dessen „Da-
vid“ ähnliche Nachreden auf sich zog, hat-
te dieses Hilfsmittel nicht, er konnte nur
die Zeit für sich arbeiten lassen.
Eines beweist die Ausstellung in je-
dem Fall: Der langgestreckte, sechshun-
dert Quadratmeter große Saal, den Da-
vid Chipperfield in die James-Simon-Ga-
lerie hineingebaut hat, ist nicht nur aus-
stellungstauglich, er fordert zu Experi-
menten mit Kunst und Geschichte gera-
dezu heraus. Die Ausstellung „Nah am
Leben“ hat sich noch nicht getraut, mit
diesem Raum zu spielen, deshalb stopft
sie ihn so mit Objekten voll, dass sich die
Dinge gegenseitig zum Verschwinden
bringen. Aber das ist erst der Anfang. An-
dere werden folgen, die die Leere des
Saals zum Klingen bringen, und so wird
die Simon-Galerie immer nah am Leben
sein. ANDREAS KILB
Nah am Leben. 200 Jahre Gipsformerei.James-Si-
mon-Galerie auf der Museumsinsel, bis 1. März
- Der Katalog kostet 42 Euro.
Yann Queffélec ist ein „fils de“, der Sohn
eines anderen Schriftstellers: Sein Vater
Henri (1910 bis 1992) war ein der bretoni-
schen Sache verschriebener Romancier,
als solcher Träger des Hermine-Ordens;
sein umfangreiches Werk ist dem Meer ge-
widmet. Der Sohn Yann, der eigentlich
Jean-Marie heißt, wird am 4. September
1949 fern der Küste, nämlich in Paris, ge-
boren. Eine Tatsache, die der Junge vehe-
ment verleugnen wird: Er, der seine Som-
mer am Aber-Ildut im westlichsten Wes-
ten der Bretagne verbringt, behauptet, er
habe in Brest das Licht der Welt erblickt.
Früh sticht er mit allen möglichen Gefähr-
ten in See; 1962 macht er ein Praktikum
in einer Segelschule, 1969 bricht er zur
Weltreise mit dem Segelschiff auf.
Bekannt wird Queffélec mit seinem
zweiten Roman „Barbarische Hochzeit“,
der 1985 bei Gallimard erscheint und den
Prix Goncourt erhält; zu jener Zeit arbei-
tet Queffélec als Literaturkritiker beim
„Nouvel Observateur“. Publikation und
Preis verdankt er zu einem guten Teil der
Verlegerin Françoise Verny (1928 bis
2004), in den siebziger und achtziger Jah-
ren die „Literaturpäpstin“ Frankreichs.
Queffélec war ihr im Mai 1978 begegnet,
als eine seiner Schiffsreisen mit Karacho
auf Belle-Île endete. Durch Regen und
Wind kam eine schwarze Form auf ihn zu
und sagte: „Du, Schatz, hast eine Schrift-
steller-Schnauze.“
Beim Erscheinen war der Verny gewid-
mete Roman umstritten. Auch dem heuti-
gen Leser ist mulmig: Er erzählt die Ge-
schichte von Ludo, gezeugt bei der Verge-
waltigung einer Dreizehnjährigen, Nicole
Blanchard. Behindert ist der Junge als Fol-
ge der Misshandlung, die Nicole und ihre
Familie ihm antun: Während er ein Leben
lang um seine Mutter ringt, will sie ihn un-
geschehen machen. Er wächst auf dem
Dachboden auf, später steckt Nicole ihn
in eine Einrichtung, aus der er nach ei-
nem Jahr flieht. Ludo findet Unterschlupf
in einem Schiffswrack; dort kommt es
zum Showdown mit seiner Mutter, einer
zweiten „barbarischen Hochzeit“.
Ein zwiespältiges Buch: Einerseits be-
schreibt Queffélec präzise, nimmt den
Blick Ludos überzeugend ein; sein Stil
gibt kalter Wut eine Form. Andererseits
ist die Romanwelt extrem hässlich, die
Gruppenvergewaltigung zu Beginn uner-
träglich. Es gibt nur eine einzige sympa-
thische Figur, Ludos Stiefvater Micho,
und der ist ein Verlierer. Nun ist ein pessi-
mistisches Menschenbild in der französi-
schen Literatur häufig, von den Moralis-
ten bis zu Céline; allerdings treibt Queffé-
lec es auf die Spitze. Vor allem haben sei-
ne Figuren eine übertriebene Tendenz
zum Sadismus. Die Zeichnung der Haupt-
figur schließlich überzeugt gegen Ende
wenig: Ludos Reaktion auf Nicoles Ab-
weisung ist eine zunehmend sexualisierte
Jagd nach mütterlicher Zuneigung – das
erscheint abermals wie eine Karikatur.
Splatter-Roman oder großer Text aus der
Kälte? Die Partie ist noch offen.
Den Kampf um elterliche Anerken-
nung kennt Queffélec aus eigener An-
schauung: Er rang um die seines Vaters,
eines Absolventen der École normale su-
périeure, Latinisten, Freundes von Julien
Gracq, der die Erstgeborenen Hervé, ei-
nen Mathematikprofessor, und Anne,
eine Pianistin, vorzog. Als Yann ihm am
Telefon mitteilte, dass er den Prix Gon-
court erhalten hatte, war seine Reaktion:
„Ich weiß, meine Putzfrau hat es mir ge-
sagt.“ Dennoch: Yann verteidigt ihn, wid-
met ihm einen Eintrag in seinem „Dicti-
onnaire amoureux de la Bretagne“ (Lieb-
haberwörterbuch der Bretagne, 2013)
und sogar den Band „L’homme de ma
vie“ (Der Mann meines Lebens, 2015).
Dem Vielschreiber Queffélec, von dem
seit langem nichts mehr übersetzt wurde,
vertraute man neben dem „Liebhaberwör-
terbuch der Bretagne“ auch jenes zum
Meer (2018) an. Es handelt sich dabei kei-
neswegs um Folklore, sondern um literari-
sche Texte in alphabetischer Reihenfolge.
Schöner noch sind seine Kindheitserinne-
rungen „Le soleil se lève à l’ouest“ (Die
Sonne geht im Westen auf, 1994), die von
den Ferien in Aber-Ildut erzählen – poeti-
sche Draufgänger-Memoiren von Yann
Queffélec, der heute siebzig Jahre alt
wird. NIKLAS BENDER
Bretone aus Leidenschaft
Die Sonne geht im Westen auf: Zum siebzigsten Geburtstag des französischen Schriftstellers Yann Queffélec
Laokoon für den Preis
eines Sportwagens
Leipzig, Dresden, sogar Naumburg.
Orte, die seit geraumer Zeit eine neue, je-
doch traurige Berühmtheit erlangt ha-
ben. Dabei fing alles so gut an: Zur Zeit
von Jakob Michael Reinhold Lenz waren
diese Städte bedeutende Geisteszentren.
Genau dort siedelt Lenz, der radikalste,
wildeste Sozialankläger und revolutio-
närste Vertreter des Sturms und Drangs,
ein Herder- und Kant-Verehrer, eines sei-
ner fulminantesten Stücke an. Lenz: Ein
kompromisslos Moderner, der vom An-
fang seines Schaffens an schonungslos
Missstände benannte, deren Thematisie-
rung Zeitgenossen vermieden oder nur
sublimiert wiedergaben. Doch hatte er
das Pech, dass gleich seine ersten erfolg-
reichen, allerdings anonym veröffentlich-
ten Stücke Goethe zugeschrieben wur-
den. Als Lenz als Urheber bekanntwur-
de, stempelte man ihn gar noch als Nach-
ahmer ab.
Goethe publizierte fast gleichzeitig sei-
nen „Werther“, und die öffentliche Wahr-
nehmung aller anderen Publikationen
unterlag dem von diesem Kassenschla-
ger ausgehenden Parfum der Hysterie.
Goethe war es auch, der bestimmte, ob
Stücke veröffentlicht und aufgeführt wur-
den oder nicht. So wurde der gefährdete,
schreibsüchtige Lenz, der die Unabding-
barkeit des Dichters über alles stellte (da
dieser sonst nur „Brustzuckerbäcker,
Bettwärmer oder Pillenversilberer“ sei),
in Weimar vom nur um ein Jahr älteren
Goethe zunächst gefördert. Doch inner-
halb eines dreiviertel Jahres brach Goe-
the mit Lenz (vermutet wird eine Frauen-
geschichte oder ganz einfach Neid) und
verhinderte weitere Publikationen. Lenz
wurde vertrieben und schließlich als Re-
bell und Querulant aus dem Fürstentum
verbannt. Er sollte nicht der einzige Dich-
ter bleiben, der unter Goethes Interessen-
räder geriet.
Lenz folgte keiner Mode, keiner Me-
thode, keiner Schule. Dafür hat er be-
zahlt. Ein Studienabbrecher, ein unbe-
quemer Unbehauster, der sich zeitlebens
in finanziellen Nöten befand und zwi-
schen allen amtlichen Stühlen saß: Nie
wurde er als Lette ganz in Deutschland
aufgenommen, nie erhielt er als russi-
scher Untertan ein Amt. Er sollte drang-
saliert und wiederholt für wahnsinnig er-
klärt werden, bis er über Stationen im El-
sass und in der Schweiz, schließlich vom
dreißigsten Lebensjahr an im russischen
Exil lebte und dort elend und obdachlos
mit 42 Jahren in einer Moskauer Gasse
krepierte. Grab unbekannt. Noch heute
kennt manch Theater seinen „Hofmeis-
ter“ oder die „Soldaten“– doch sonst?
Der Reformidealist Lenz, der sich „das
ganze Volk“ als sein Publikum wünschte,
stieß mit seiner Haltung, die das Feudal-
system heftig angriff, auf Widerstand. So
ist sein Protagonist in „Der neue Meno-
za“, ein die Sitten der Europäer – insbe-
sondere die der Deutschen – erforschen-
der, nach Frankreich durchreisender
Mann, natürlich kein Erbprinz, sondern
ein aufgestiegener Page. In Naumburg
trifft er auf die Familie Biedermann und
wird von ihr aufgenommen. Lenz zeich-
net ein „Raritätenkabinett“, das mit
Herrn Biedermann, „dem wackersten Eu-
ropäer“, beginnt, einem Ex-Offizier, der
all seine Fortune im Schlesischen Krieg
verloren hat und jetzt als Handelsreisen-
der mit Frau (Etatverwalterin sowie
Bankrott-Menetekel) und Tochter in
Naumburg lebt. Biedermann plädiert für
einen zehn- bis zwanzigjährigen Aufent-
halt des Prinzen, um die „Deutschen zu
verstehen“.
In Wahrheit ist der Prinz sein verlore-
ner Sohn, den die Eheleute im Kindes-
alter als Söldner an einen Tiroler Freund
„verkauft“ hatten, der ihn Jesuiten mit-
gab und den die Biedermanns längst tot
wähnen. Dieser gebürtige Europäer, der
in Smyrna/Türkei und Cumba/Hinter-
indien (die Topographie des Ganzen
schwankt abenteuerlich) eingepflanzt
wurde, so wie Vater Biedermann als Ta-
schen-Linné Maulbeerbäume für seine
Seidenwurmzucht in Sachsen anpflanzt,
will „Land und Leute“ kennenlernen,
um daheim ein besserer Regent zu sein.
Was er sieht, ist das reinste Sodom.
Dieser mal als „Kalmücke“, mal als „Bra-
mahne“ titulierte angebliche Wilde, ein
großer Leser, verliebt sich als Erstes ve-
hement in die Tochter des Hauses und
sie sich in ihn: Wilhelmine, eine stille
Liebende und gleichzeitig aggressive Pe-
nelope. Graf Chamäleon, ein Immobi-
lienspekulant, ist ebenfalls an ihr interes-
siert und gerät darüber mit dem Prinzen
aneinander. Heimlich heiratet dieser Wil-
helmine in Rosenheim, doch dann
taucht Zopf, „der Tiroler“ auf und gibt be-
kannt, dass der Prinz der Sohn Bieder-
manns ist.
Gram, Kummer und ein Inzestver-
dacht trennen fortan die Liebenden trotz
der elterlichen Freude und Reue. Wilhel-
mine verfällt der Verzweiflung, der Prinz
wechselt die Stadt und wird in Leipzig
zum Wohltäter für Bedürftige. Chamäle-
ons Frau, Donna Diana, eine spanische
Gräfin und erstklassige Megäre, für die
Männer verlogene Hunde und Frauen
nur Huren sind, erfährt von ihrer Amme
Babet, wer sie wirklich ist: ein vertausch-
tes Baby, Biedermanns Tochter. Der In-
zest ist damit ausgeräumt, die Liebenden
finden einander wieder, und Diana
nimmt (als Wilhelmine verkleidet) Ra-
che an Chamäleon.
Lenzens Stück rast durch alle erdenkli-
chen Verhaltensweisen. Es wird sich ver-
liebt, verführt, vergewaltigt, getäuscht,
Wort gebrochen, bestochen, vergiftet
(Kakao), geflüchtet, räsonniert, getreten
und ausgepeitscht, es kommt zu kalku-
lierten Drogenpartys en masse mit Flu-
ten von Alkohol und besinnungslosen Fu-
rien-Tänzen. Nur die Liebenden schwei-
gen viel, fallen gerne in Ohnmacht, be-
weisen Herzensgröße- und -gram und
halten kurz die Zeit an durch kleine, zar-
te Monologe. Babys, Leben und Herzen
werden achtlos vertauscht. Als aufklären-
de Richtungswechsler der rasanten Hand-
lung fungieren unentwegt eintreffende
Briefe, die alle Machenschaften und Be-
trügereien aufklären. Alle scheinen mit
der Wahrheit trotz des vielen Redens all-
zeit überfordert.
Zusätzlich erfindet Lenz zwei Diskus-
sionsrunden mit dem Prinzen und einem
Studentenvertreter, dem Sohn des Bür-
germeisters von Naumburg, einem Bacca-
laureus der (damals) provinziellen Uni-
versität Wittenberg, einem Semi-Intellek-
tuellen, der Musen und Grazien studiert
und an die Möglichkeit eines neuen „gol-
denen Zeitalters“ glaubt, seine revolutio-
nären Ideen jedoch nur flüsternd vorzu-
bringen vermag. Die zweite Talkrunde
über Sitten und Staatsreformen wird er-
gänzt durch den Magister einer Eliteschu-
le, der Philosophie und Sprachen des
Abendlandes beherrscht. Und ganz zum
Schluss serviert Lenz noch einen kleinen
theoretischen Salto in Form einer Ab-
handlung über das Theater: Eine Theo-
rie über den Sinn der Nachahmung lässt
er auf die Sicht des Naumburger Bürger-
meisters, eines nüchternen Kaufmannes,
stoßen, der „Püppelspiele“ vorzieht und
seinem Sohn gewaltsam einbläut, wie
und was Theater zu sein hat – und wie
eben nicht.
Kurz: Lenz schafft es, in 36 knappen
Szenen und 5 Akten alles zu zeigen, was
noch unsere Gesellschaft und ihre Me-
dien bewegt: Gleichberechtigung und
Frauenrechte, Inzest, Bildungsreform an
Schulen und Universitäten, Kritik am un-
gebildeten Mittelstand, Immobilienspe-
kulationen, Vergewaltigungen und Ge-
waltexzesse, Schuldenpolitik, soziale Un-
gerechtigkeit, Landschaftspflege und
Nachhaltigkeit, Betrugs- und Korrupti-
onsbekämpfung, Empathielosigkeit bei
gleichzeitiger Pornoisierung – „keine
Empfindung, nur Geilheit, Tugend in der
Schminke der Brutalität“ –, eine Ethik-
debatte über Sittenverfall und Moral, Kri-
tik an Wirtschaftsinteressen der Indus-
trie, also dem Raubbau an Bodenschät-
zen und den Menschen (Lenz trank nicht
einmal Schokolade, weil der „Schweiß
der Wilden“ daran klebe), Wunsch nach
Förderung der Künste und einer Reform
der Theologie, Geistlichkeit und Philoso-
phie.
Das Ganze geschieht trotz mitunter
ausufernder Gewalt so lustvoll und gro-
tesk, dass Lenzens Erbarmungslosig-
keit nie das Interesse am ironischen
Blick auf das eigene Land verhindert.
Um der Radikalität des Stückes gerecht
zu werden, muss man das Geschehen
sehr ernst nehmen, ohne falschen Histo-
rizismus und ohne moralistischen
Weichspüler. Denn Lenz nimmt die Lar-
ve in all ihren Ausformungen als Prin-
zip an und sucht mit allen ihm zur Verfü-
gung stehenden Mitteln nach ihrer Ent-
tarnung. DÖRTE LYSSEWSKI
Die Verfasserinist Schauspielerin im Ensemble
des Wiener Burgtheaters und Schriftstellerin.
Zuletzt erschien ihr Roman „Der Vulkan oder Die
heilige Irene“.
Die Theaterserie„Spielplan-Änderung“stellt
Bühnenstücke vor, die unbedingt wieder mehr
gespielt werden müssen. Alle bisherigen Beiträ-
ge finden Sie unter faz.net/theaterserie.
In Paris ist ein Werk von Banksy vor
dem Museum Centre Pompidou gestoh-
len worden. Das Sprühbild zeigt eine
Ratte mit Tuch und Cuttermesser und
wurde offenbar mit Hilfe einer Säge
von der Rückseite eines Parkhaus-
schilds herausgeschnitten. Das Centre
Pompidou ist nicht der Besitzer des
Werks, wie das Museum mitteilte, habe
aber dennoch Anzeige erstattet. Bank-
sy ist der prominenteste Graffiti-Künst-
ler der Welt, seine Identität aber nur ei-
ner Handvoll Vertrauter bekannt. Erst
Anfang des Jahres hatte der Diebstahl
eines Banksy-Werks in Paris für Schlag-
zeilen gesorgt. Es wurde mitsamt der
Tür, auf der es angebracht war, aus
dem Club Bataclan entfernt, in dem
2015 bei einem Terroranschlag neun-
zig Menschen getötet worden waren.
Das Schablonenbild zeigte eine trau-
ernde Frau mit Schleier. dpa
Herausgeschnitten
Banksy-Bild in Paris gestohlen
Kunst und Kopie: Die
James-Simon-Galerie
zeigt eine Ausstellung
über die Berliner
Gipsformerei.
In eurem Morast
ersticke ich!
Spielplan-Änderung (31): „Der neue Menoza
oder Geschichte des cumbanischen Prinzen Tandi“
von Jakob Michael Reinhold Lenz
Poetischer Draufgänger: Yann Queffélec
erhielt unter anderem den begehrten Prix
Goncourt. Foto Laif
Der männliche Kopf
aus schellackiertem
Gips wurde 1894 als
Schulmodell gefertigt
Foto SMB/Gipsformerei/
Philip Radowitz