Frankfurter Allgemeine Zeitung - 04.09.2019

(Ron) #1

SEITE 6·MITTWOCH, 4. SEPTEMBER 2019·NR. 205 Politik FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


WIEN, 3. September


A


m Dienstag hat im Hafen von Sa-
loniki ein Schiff angelegt, dessen
Name einmal mit dem Scheitern
eines wichtigen europäischen Projekts
verbunden werden könnte. Unter den
Passagieren auf der Fähre „Aqua Blue“
waren 379 Migranten, die zuvor unter er-
bärmlichen Bedingungen in dem Aufnah-
melager Moria auf Lesbos gehaust hat-
ten. Sie gehörten zu jenen etwa 1500 Mi-
granten, die im Zuge einer Notmaßnah-
me der griechischen Regierung auf das
Festland gebracht wurden, um das völlig
überfüllte Lager zu entlasten. Verschif-
fungen von anderen Inseln, insbesonde-
re Samos, könnten folgen, denn auch die
dortigen Lager sind stark überlastet.
Die Migranten sollen nun in ein un-
weit der griechischen Grenze zu Nordma-
zedonien gelegenes Aufnahmelager ge-
bracht werden. Damit wären sie ihren
Wünschen schon näher, denn Deutsch-
land und andere Staaten in Nordwesteu-
ropa sind ihre eigentlichen Ziele. Aller-
dings könnten auch die Lager auf dem
Festland bald vor Engpässen stehen,
denn auf den griechischen Inseln steigt
die Zahl der Ankommenden, die von der
türkischen Küste aus aufbrechen, seit Mo-
naten. Es ist womöglich nur eine Frage
von Wochen oder gar Tagen, bis wieder
Fähren eingesetzt werden müssen, um
die Inseln zu entlasten. Erste Lokalpoliti-
ker in Nordgriechenland warnen, ihre
Gemeinden seien der Aufgabe nicht ge-
wachsen. Damit wiederholen sie die Kla-
gen südgriechischer Inselbürgermeister.
Der Trend ist deutlich: Wurden im Ja-
nuar noch 2000 ankommende Migranten
und Flüchtlinge auf den griechischen In-
seln registriert, waren es im Mai knapp
3000, im Juni fast 4000 sowie im Juli
mehr als 5600. In der vergangenen Wo-
che erreichte der Zustrom einen neuen


Tageshöchstwert, als allein auf Lesbos
binnen Stunden knapp 600 Migranten an-
kamen. Das hat zwar auch mit dem Wet-
ter zu tun, das derzeit günstiger ist als im
zuweilen stürmischen Herbst. Hinzu
kommt aber, dass ein eigentlich zur
Steuerung von Migration gedachtes In-
strument an Wirksamkeit verliert. Im
März 2016 schlossen die EU und die Tür-
kei ein Abkommen, um das Geschäftsmo-
dell der Schleuser zu zerschlagen. Dafür
wurde als Stichtag der 20. März 2016 fest-
gelegt. Alle danach von der Türkei aus
auf den griechischen Inseln ankommen-
den Migranten sollten in die Türkei zu-
rückgeführt werden. Dafür verpflichte-
ten sich einige EU-Staaten, andere Mi-
granten direkt aus der Türkei aufzuneh-
men. Der Hintergedanke: Sobald sich her-
umspricht, dass die potentiell lebensge-
fährliche Überfahrt auf die ägäischen In-
seln wieder in die Türkei führt, werde nie-
mand mehr Geld an Schlepper zahlen. In
Kombination mit der zur gleichen Zeit
„geschlossenen“ Balkan-Route funktio-
nierte dieser Ansatz, der Grenzen sicher-
te und zugleich einen kontrollierten Weg

nach Europa offenhielt, anfangs gut. Die
Zahlen sanken stark.
Doch ein Element des EU-Türkei-
Pakts funktionierte nie: Zurückgeschickt
werden können Migranten von den grie-
chischen Inseln nur, nachdem ihr Asylan-
trag von den Behörden geprüft und abge-
lehnt wurde. Der im Juli abgewählte Re-
gierungschef Alexis Tsipras hat sich aber
nie ernsthaft darum gekümmert, die nöti-
gen Ressourcen bereitzustellen, um Asyl-
anträge in angemessener Zeit zu prüfen.
So wuchs die Zahl unbearbeiteter Fälle
immer weiter, und damit auch die Zahl
der auf den Inseln festsitzenden Migran-
ten. Kranke, unbegleitete Minderjährige
und andere als verletzlich geltende Perso-
nen wurden zwar schon früher in unregel-
mäßigen Abständen von den Inseln auf
das Festland gebracht. Doch dieser Tage
signalisieren Fähren wie die „Aqua
Blue“: Das EU-Türkei-Abkommen steht
vor dem Scheitern.
Käme es so, wäre es ein vermeidbares
Scheitern. Ankaras Bereitschaft zur Ein-
haltung des Pakts unterliegt politischen
Konjunkturen, wird aber durch die Zah-

lung von vielen Milliarden Euro zur
Flüchtlingsbetreuung auf türkischem Ter-
ritorium genährt. Was auf griechischer
Seite geschehen muss, um das Abkom-
men durchzusetzen, ist dagegen seit lan-
gem klar: Es braucht Ressourcen und poli-
tischen Willen, um die Behörden in die
Lage zu versetzen, Asylanträge in ange-
messener Zeit zu bearbeiten. Vor allem
der politische Wille fehlte Tsipras und sei-
nem regierenden „Bündnis der radikalen
Linken“. Der neue Ministerpräsident Ky-
riakos Mitsotakis dagegen scheint diesen
Willen zu haben. Noch als er Oppositions-
führer war, trafen sich einige seiner wich-
tigsten Mitstreiter, so der heutige Außen-
minister Nikos Dendias und der nun im
Kabinett für Migration zuständige Minis-
ter Giorgios Koumoutsakos in Athen mit
dem Migrationsfachmann Gerald Knaus,
der als „Erfinder“ des EU-Türkei-Pakts
gilt. Knaus riet ihnen, bei Einhaltung al-
ler menschenrechtlichen Standards die
Asylverfahren zu beschleunigen, wie es
etwa die Niederlande vorgemacht haben.
Dann könne das EU-Türkei-Abkommen
im ursprünglichen Sinne funktionieren.
Aus späteren Äußerungen von Mitsota-
kis wurde deutlich, dass er genau das an-
strebt. Unter dem Druck der Ereignisse
hat die Regierung in Athen nun jedoch
Sofortmaßnahmen eingeleitet, die eine
andere Botschaft aussenden. Das gilt
nicht nur für den Einsatz von Fähren, um
Migranten ans Festland zu bringen. Auf
einer von Mitsotakis einberufenen Sit-
zung des griechischen Rats für Außenpoli-
tik und Verteidigung wurden am vergan-
genen Samstag mehrere weitere Maßnah-
men beschlossen. Was von der Sitzung an
die Öffentlichkeit drang, zeugte indes
eher von Kopflosigkeit und Populismus
als von einem wohlüberlegten Kurswech-
sel in der Migrationspolitik. So wurde die
Anschaffung zehn neuer Schiffe für die
griechische Küstenwache angekündigt.
Das kann an der Zahl der auf den Inseln
ankommenden Migranten nichts ändern,
sofern Griechenland nicht internationa-
les Recht brechen will. Nach der Sitzung
hieß es zudem, die Regierung plane eine
Straffung der Asylverfahren durch die
„Abschaffung“ der Berufungsinstanzen.
Das wäre jedoch rechtswidrig. Aus infor-
mierter Quelle in Athen heißt es dazu ein-
schränkend, geplant sei, die zweite In-
stanz von den bisher zuständigen Beru-
fungskomitees auf Gerichte zu verlagern.
Die griechische Justiz ist allerdings nicht
für schnelle Entscheidungen berühmt.

Migrationskrise mit Ansage


PEKING, 3. September. Als Hongkongs
Regierungschefin Carrie Lam sich vergan-
gene Woche mit ein paar Geschäftsleuten
zum Mittagessen traf, ließ jemand heim-
lich ein Aufnahmegerät mitlaufen, und
spielte den Mitschnitt der Nachrichten-
agentur Reuters zu. In dem gut zwanzig
Minuten langen Gespräch, von dem Reu-
ters am Dienstag eine Abschrift veröffent-
lichte, präsentiert sich Carrie Lam als ge-
lähmte, machtlose Regierungschefin, der
die Zentralregierung in Peking jeglichen
Spielraum genommen hat. Selbst die Ent-
scheidung zurückzutreten, scheint dem-
nach nicht in ihrer Hand zu liegen. Teile
des Audio-Mitschnitts kursierten am
Dienstag im Internet. „Wenn ich die Wahl
habe, werde ich als Erstes zurücktreten,
nachdem ich mich zutiefst entschuldigt
habe“, sagt Lam darin. „Deshalb bitte ich
Sie um Ihre Vergebung.“ Das „große Cha-
os“, das sie über Hongkong gebracht
habe, sei „unverzeihlich“.
Ihr Spielraum für eine politische Lö-
sung sei aber „sehr, sehr, sehr begrenzt“,
weil die Krise eine „nationale Ebene“ er-
reicht habe. „Leider“, sagt Carrie Lam,
müsse sie als Hongkonger Regierungs-
chefin laut Verfassung zwei Herren Folge
leisten: der Zentralregierung und der
Hongkonger Bevölkerung. Ihre Worte be-
stätigen, was seit längerem in Hongkong
kolportiert wird: dass die chinesische Füh-
rung Konzessionen an die Hongkonger
Aktivisten abgelehnt hat und kein ernstzu-
nehmender Dialog mit führenden Köpfen
der Protestbewegung zu erwarten ist.
In der Aufnahme klingt es, als ringe
Carrie Lam bei ihren Ausführungen bis-
weilen um Fassung. Das deckt sich mit


dem Eindruck, den sie auf jene gemacht
hat, die sie zuletzt persönlich getroffen ha-
ben. Ein Kirchenmann, der die Regie-
rungschefin vor einigen Tagen bei einem
Gebetstreffen im Kreis ihrer engsten Mit-
arbeiter erlebt hat, beschreibt sie als „iso-
liert“ und „nicht mehr die Gleiche wie frü-
her“. Er kenne Carrie Lam als arrogant,
kompromisslos und überaus selbstbe-
wusst, sagt der Geistliche im Gespräch
mit dieser Zeitung. Nun wirke sie „depres-
siv“. Die Tatsache, dass sie dem Gebets-
treffen zugestimmt habe, bezeichnete er
als Zeichen, „dass sie mentale Unterstüt-
zung braucht“.
Wer ein Interesse daran haben könnte,
dass Lams Worte öffentlich werden,
bleibt eine offene Frage. Spekulationen,
dass sie selbst oder ihre Regierung es ge-
wesen sein könnten, wies Carrie Lam am
Dienstag als „absolut gegenstandlos“ zu-
rück. Sie zeigte sich „sehr enttäuscht,
dass meine Äußerungen bei einem abso-
lut privaten, exklusiven Treffen“ an die
Medien durchgestochen wurden. Damit
bestätigte sie zugleich die Echtheit des
Tondokuments.
Bei dem Treffen mit den Geschäftsleu-
ten geht die Regierungschefin ausführ-
lich auf die Strategie der chinesischen
Führung zur Unterdrückung der Proteste
ein. Glaubt man Lams Einschätzung,
dann hat Chinas Führung „absolut nicht
die Absicht“, das Militär gegen die De-
monstranten einzusetzen. „Sie wissen,
dass der Preis dafür zu hoch wäre. Ihnen
ist das internationale Ansehen des Lan-
des wichtig.“ Es habe China viel Zeit ge-
kostet, seinen Einfluss „nicht nur als gro-
ße Volkswirtschaft, sondern als große

verantwortungsvolle Volkswirtschaft“
auszubauen. Stattdessen plant Peking
laut Carrie Lam, den Konflikt auszusit-
zen. Ziel müsse es sein, sagt sie, die ge-
waltbereiten Aktivisten festzunehmen
und vor Gericht zu stellen. Ihre Zahl, die
die Regierung auf tausend bis zweitau-
send geschätzt habe, sei bereits rückläu-
fig. Die vom Abgeordneten Michael Tien
in die Welt gesetzte Behauptung, Peking
habe ihr eine Frist zur Lösung der Krise
gesetzt, weist Carrie Lam zurück. „Ich
kann Ihnen versichern, dass Peking kei-
nen Stichtag hat.“ Die Zentralregierung
erwarte nicht, dass „wir diese Sache vor
dem ersten Oktober lösen können“. An
diesem Datum feiert die Volksrepublik
China den 70. Jahrestag ihrer Gründung.
Präsident Xi Jinping plant eine Machtde-
monstration, deren Vorbereitung die
Hauptstadt schon jetzt in Atem hält.
Die Zentralregierung selbst verwies
am Dienstag erstmals darauf, dass der
Ständige Ausschuss des Volkskongresses
das Recht habe, den Notstand über die
Sonderverwaltungszone auszurufen. In
diesem Fall würden nationale Gesetze
auch in Hongkong gelten, sagte die Spre-
cherin unter Verweis auf einen entspre-
chenden Passus in der Hongkonger Ver-
fassung. Bislang hatte Peking immer dar-
auf verwiesen, dass Carrie Lam das Mili-
tär um Hilfe rufen könne oder sich per
Notstandsverordnung weitreichende Be-
fugnisse sichern könne. Womöglich zei-
gen sich hier erste Risse im Verhältnis Pe-
kings zu Carrie Lam.
Auf ihrer Pressekonferenz sagte Lam:
„Ich habe niemals meinen Rücktritt ein-
gereicht. Ich habe mir nicht die Wahl ge-

lassen, einen leichteren Weg zu nehmen
und zu gehen.“ Schon seit Wochen wird
in Hongkong über einen möglichen Nach-
folger spekuliert, doch bislang waren Be-
obachter davon ausgegangen, dass Pe-
king unter allen Umständen den Ein-
druck vermeiden wolle, auf den Druck
der Straße zu reagieren. Als Anhalts-
punkt galt der Rücktritt des früheren Re-
gierungschefs Tung Chee-hwa, der sei-
nen Posten 2005 zwanzig Monate nach ei-
ner Massendemonstration aufgab, die
ein umstrittenes Sicherheitsgesetz zu
Fall gebracht hatte. Gerade in der jetzi-
gen Lage, in der Staats- und Parteichef
Xi Jinping wegen des eskalierenden Kon-
flikts mit den Vereinigten Staaten unter
Druck steht, dürfte er jegliches Zeichen
von Schwäche vermeiden wollen.
Auch dürfte es für Peking nicht ein-
fach sein, einen Nachfolger zu finden,
der bereit wäre, in der Krise zu überneh-
men. Aus dem Umfeld Carrie Lams war
immer wieder die Einschätzung geäu-
ßert worden, Peking wolle, dass sie den
von ihr mitverursachten Schaden selbst
ausbade. Die Ernennung eines Nachfol-
gers durch ein von pro-Pekinger Kräften
dominiertes Gremium würde zudem der
Forderung nach einer freien Wahl der Re-
gierungsspitze neue Nahrung geben.
Noch dazu ist in der tief gespaltenen
Hongkonger Gesellschaft niemand in
Sicht, der genügend Vertrauen genießen
würde, um die Wunden zu heilen. Schon
gar niemand, der bereit wäre, Pekings
Anweisungen zu folgen. Ein Kandidat
von außerhalb Hongkongs wäre aber
wohl nicht einmal für die pro-Pekinger
Kräfte in der Stadt akzeptabel.

Lasker-Wallfisch ausgezeichnet


Der Deutsche Nationalpreis 2019 der
Deutschen Nationalstiftung ist am Diens-
tag in Berlin Anita Lasker-Wallfisch ver-
liehen worden. Die Holocaust-Überle-
bende, die in Breslau geboren wurde und
in Großbritannien lebt, sucht seit vielen
Jahren in Begegnungen mit Schülerin-
nen und Schülern in Deutschland die Er-
innerung an das Geschehen während der
Nazi-Zeit wachzuhalten. Sie wurde ausge-
zeichnet für ihr unermüdliches Streiten
wider Antisemitismus und Fremden-
feindlichkeit. Der frühere Bundespräsi-
dent Horst Köhler sagte, in diesem Jahr
sei die Botschaft des Preises, dass die Ge-
sellschaft dem Erstarken des Antisemitis-
mus – des traditionellen wie des einge-
wanderten – nicht tatenlos zusehen dür-
fe. Bundespräsident Frank-Walter Stein-


meier würdigte die Rolle, die Lasker-
Wallfisch dabei gespielt habe, das Tot-
schweigen der Verbrechen des Holocaust
zu brechen. „Indem Sie den Preis anneh-
men, ehren Sie das Land, in dessen Na-
men er vergeben wird“, sagte Steinmeier
in der Französischen Friedrichstadtkir-
che. Den Förderpreis der Nationalstif-
tung erhielt die Initiative „JuMu Deutsch-
land“, in der sich Juden, Muslime und
Christen gegen Antisemitismus und
„gruppenbezogene Menschenfeidlich-
keit“ einsetzen. (F.A.Z.)

Flüchtlinge werden verteilt
Deutschland und vier weitere EU-Staa-
ten nehmen die 104 Migranten des tage-
lang auf dem Mittelmeer blockierten Ret-
tungsschiffs Eleonore auf. Auch Frank-
reich, Irland, Portugal und Luxemburg

beteiligten sich, sagte eine Sprecherin
der EU-Kommission am Dienstag. Die
Brüsseler Behörde hatte die Lösung in
den vergangenen Tagen koordiniert. Nun
organisiere man die Verteilung der Mi-
granten von Italien aus, sagte die Spre-
cherin. Dort hatte die Eleonore am Mon-
tag mit den mehr als 100 Migranten nach
einwöchiger Blockade auf dem Mittel-
meer angelegt. Der deutsche Kapitän
Claus-Peter Reisch war zuvor trotz eines
Verbots der italienischen Regierung in
nationale Gewässer gefahren, nachdem
sich die Verhältnisse für die Menschen
an Bord nach einem Gewitter weiter ver-
schlechtert hatten. Für die rund 31 Mi-
granten, die am Montag das ebenfalls ta-
gelang blockierte Rettungsschiff Mare Jo-
nio verlassen konnten, gibt es noch keine
Lösung. (dpa)

Macron treibt Rentenreform voran
Der Chefunterhändler der französischen
Rentenreform, Jean-Paul Delevoye, zieht
ins Regierungskabinett. Das hat der 72
Jahre alte Politiker am Dienstag in ei-
nem Zeitungsgespräch selbst angekün-
digt. Nach 18 Monaten Verhandlungen
mit den Sozialpartnern soll Delevoye als
beigeordneter Minister die politisch heik-
le Rentenreform zum Erfolg führen. Er
trägt weiterhin den Titel „Hochkommis-
sar für das Rentensystem“. Delevoye gilt
als sozialer Gaullist und zählte lange
zum engen Stab der Vertrauten um den
früheren Präsidenten Jacques Chirac.
Präsident Emmanuel Macron hofft dar-
auf, dass es Delevoye gelingt, die Reform
des Rentensystems ohne eine Neuaufla-
ge der „Gelbwesten“-Protestbewegung
durchzusetzen. (mic.)

Eine gelähmte und machtlose Regierungschefin


Ein Audio-Mittschnitt von Carrie Lam zeigt, wie sehr Peking in Hongkong den Ton angibt / Von Friederike Böge


Wichtiges in Kürze


Politik


Symptom des Scheiterns:Migranten warten am Dienstag auf ihre Fähre. Foto AFP

Auf den griechischen


Inseln kommen so


viele Migranten an wie


seit 2016 nicht mehr.


Scheitert nun das


Türkei-Abkommen?


Von Michael Martens


Er steht zwar „nur“ im Feuilleton der
F.A.Z. Aber auch das ist ja politisch. Ich
meine den Vorschlag von Jürgen Kaube in
der F.A.Z. vom 30. August („Das
Hasenfußrennen“), die EU solle einfach
von sich aus die Frist für den Austritt
Großbritanniens aus der EU um einige
Monate verlängern, sagen wir bis zum 31.
Dezember oder 31. März 2020. Frau Mer-
kel hat das ja schon früher vorgeschlagen.
Wer oder was hindert den Europäischen
Rat eigentlich daran, das im Monat Sep-
tember ernsthaft zu erwägen? Auch wir
haben Interessen zu wahren!
Die Begründung wäre legitim und kei-
neswegs so ungewöhnlich, wie Kaube
meint. Es ginge darum, der britischen Sei-
te hinreichend Zeit zu geben, ohne Streit

über den demokratischen Ablauf des
Verfahrens über den Brexit zu entschei-
den. Nur das böte die Basis für eine nach-
haltige Lösung. Sie wäre im Interesse aller
Beteiligten, der Briten wie der Europäer.
Und der britischen Monarchie, denn John-
son hat mit seinem konstitutionellen
Handstreich den Betrachter geradezu her-
ausgefordert, über die Rolle der Monar-
chie in Krisensituationen nachzudenken.
Selbst Johnson dürfte eigentlich nichts da-
gegen haben, ist er doch ausdrücklich da-
für, dass die Opposition „ample time“
habe, sich zum Brexit zu äußern. Wer im
Bundeskanzleramt, bitte, ist Johnson-
gleich und trägt diesen Gedanken Frau
Merkel vor?
DR. WOLFGANG SCHULTHEIß, BERLIN

Zum Artikel „Weniger Kultur wagen“
von Jürgen Kaube (F.A.Z. vom 24. Au-
gust): Zu der Bemerkung „Wo genau sich
die Zuschauer in den Länderspielpausen
befinden... dazu steht Forschung offen-
bar noch aus“. Die öffentlichen Versor-
gungsbetriebe haben eine recht genaue
Vorstellung von dem, was sich in Millio-
nen von deutschen Haushalten abspielt:
Zunächst gehen Millionen von Zuschau-
ern ziemlich gleichzeitig zur Toilette.
Dies führt regelmäßig bei der Wasserver-
sorgung zu einem kurzzeitigen Anstieg
des Wasserverbrauches, was von den Ver-
sorgern durch rechtzeitige Bereitstellung
von Pumpleistung abzufangen ist.
Danach folgt der zweite Teil des Pau-
sen-Rituals: Viele Zuschauer führt der
nächste Weg zum Kühlschrank, um eine

weitere Flasche Bier für die zweite Halb-
zeit zu entnehmen. Dabei geht das Licht
im Kühlschrank an und dieses nahezu
gleichzeitige Anschalten von 20-Watt-
Glühbirnen verursacht einen Laststoß
im Stromnetz, der kurzzeitig der Spitzen-
last einer Großstadt wie Augsburg ent-
spricht. Deshalb stehen in den Warten
der Wasserversorgungsbetriebe und der
großen Pumpspeicherkraftwerke auch
Fernsehgeräte, damit das Personal die
Pumpen (für Wasser) und Turbinen mit
Generatoren rechtzeitig hochfahren und
ans Netz schalten kann. Ob bei dieser sta-
tistisch seit Jahrzehnten gesicherten Ab-
folge noch Zeit für die Demokratie in Ge-
stalt von teilweiser Konsumption von
Kurznachrichten übrig bleibt, ist sicher-
lich noch unerforscht.
RUDOLF GABLER, VEITSHOECHHEIM

Briefe an die Herausgeber


Zum Artikel „Maaßen dankt Schäuble
für Unterstützung“ (F.A.Z. vom 23. Au-
gust): Mit ein wenig Ironie: Der „Stein
des Anstoßes“ in der Ansage der Frau
Kramp-Karrenbauer scheint mir ihr
„Aber... “ zu sein und damit die Tücke
des deutschen Sprachgebrauchs, der ih-
rer saarländischen Herkunft geschuldet
ist.
Wieso ich dies vermute? Ich stamme
selbst aus dieser Gegend, wenn auch
nicht aus dem Saarland. Daher ist mir be-
wusst, dass ein „aber“ dort anders klingt
als sonstwo in Deutschland. Als ich aus
dem Linksrheinischen fortzog, habe ich
gelernt, dass anderswo das „aber“ eher

dem englischen „but“ entspricht, das das
vorher Gesagte konterkariert. Das saar-
ländische „aber“ scheint mir jedoch dem
luxemburgischen (französischen) „mais“
verwandt, das, zumindest von meiner
Verwandtschaft, eher als eine verbinden-
de Floskel gebraucht wird und keinen Ge-
gensatz beschreibt.
Was nun? Umerziehung der Saarlän-
der auf die Berliner Norm oder schlicht
Nachhilfe, die seit der Wiedervereini-
gung versäumt wurde? Hilft „Einfache
Sprache“ für alle? Im Journalismus bei
solchen Gesprächspartnern derzeit oft
verpöntes Nachfragen?
DR. RER. NAT. ROBERT POLIS, KIRCHHEIM

Obwohl die Historikerin Simone Lässig
meint, Historiker seien „nicht die besten
Ansprechpartner, wenn es um eine Gegen-
wartsdiagnose geht“, wagt sie sich an eine
weit ausholende Analyse über den Zusam-
menhang von CDU-Politik und Landesbe-
wusstsein in Sachsen („Wie Hefe in
Deutschland“, F.A.Z. vom 19. August).
Als sächsischer Landeshistoriker wun-
dere ich mich ein wenig über die Darstel-
lung von Frau Lässig, die Einrichtung lan-
desgeschichtlicher Professuren und Insti-
tute in Sachsen sei vor allem der politi-
schen Agenda der sächsischen CDU ent-
sprungen, also ein Ergebnis von „Ge-
schichtspolitik“, als wenn es keine ande-
ren Gründe gäbe, etwa die unbestreitbare
Relevanz sächsischer Geschichte auch im
nationalen und europäischen Rahmen,
den enormen Nachholbedarf in einer seit
Generationen vernachlässigten For-
schungslandschaft und das unbestreitba-
re öffentliche Interesse an einem seriösen

Wissen über regionale Geschichte. Weite-
res kommt hinzu: Zum Zeitpunkt der deut-
schen Wiedervereinigung bestanden in
den alten Bundesländern landesgeschicht-
liche Professuren an zahlreichen Universi-
täten, und in vielen Ländern waren auch
außerunversitäre Forschungsinstitute
oder ähnlich organisierte Kommissionen
tätig. Auch deshalb sind in den sogenann-
ten neuen Bundesländern nach der Wie-
dervereinigung zahlreiche Professuren
für Landesgeschichte eingerichtet wor-
den.
Dass die Landesgeschichte als Diszi-
plin in Sachsen besonders breit aufge-
stellt wurde, dürfte übrigens auch damit
zusammenhängen, dass sich der neube-
gründete Freistaat Sachsen in vielerlei
Hinsicht an den Verhältnissen im Frei-
staat Bayern orientiert hat.
PROFESSOR DR.ENNO BÜNZ, PROFESSOR FÜR
SÄCHSISCHE UND VERGLEICHENDE LANDESGE-
SCHICHTE AN DER UNIVERSITÄT LEIPZIG

In dem glänzend geschriebenen Beitrag
über Wirtschaftsverfassung und Grund-
gesetz von Professor Paul Kirchhof
(F.A.Z., Staat und Recht vom 15. August)
schreibt der Verfasser, das Grundgesetz
enthalte keine besondere „Wirtschafts-
verfassung“, kein diesen Lebensbereich


  • ähnlich der Finanzverfassung – prägen-
    des Gesamtkonzept.
    Das ist richtig, wenn man den Blick
    ausschließlich auf den Text des Grundge-
    setzes richtet. Doch die Leitgedanken,
    von denen die Rede ist, haben durch den
    Staatsvertrag über die Schaffung einer
    Währungs-, Wirtschafts- und Sozialuni-
    on zwischen der Bundesrepublik
    Deutschland und der Deutschen Demo-
    kratischen Republik vom 18. Mai 1990
    staatsrechtliche Qualität erlangt. Nicht
    zuletzt dem Wirken des Verfassungsrecht-
    lers Professor Schmidt-Bleibtreu, damals
    Leiter der Rechtsabteilung im Bundesmi-
    nisterium der Finanzen, ist es zu verdan-
    ken, dass die Soziale Marktwirtschaft in
    diesem Vertrag expressis verbis als
    Grundlage für die weitere wirtschaftli-
    che und gesellschaftliche Entwicklung
    festgelegt wird. In Artikel 1 Absatz 3
    heißt es wörtlich: ,,Grundlage der Wirt-
    schaftsunion ist die soziale Marktwirt-
    schaft als gemeinsame Wirtschaftsord-
    nung beider Vertragsparteien.“
    Im Weiteren wird auf das Privateigen-
    tum, den Leistungswettbewerb, freie
    Preisbildung und die grundsätzliche vol-
    le Freizügigkeit von Arbeit, Kapital, Gü-
    tern und Dienstleistungen hingewiesen.
    In Artikel 2 dieses Staatsvertrags wird
    die Grundordnung ausgeführt und auch
    die Vertragsfreiheit, Gewerbe-, Niederlas-
    sungs- und Berufsfreiheit, die Freizügig-
    keit von Deutschen in dem gesamten
    Währungsgebiet, die Freiheit zur Wah-


rung und Förderung der Arbeits- und
Wirtschaftsbedingungen, Vereinigungen
zu bilden, sowie das Eigentum privater
Investoren an Grund und Boden sowie
an Produktionsmitteln eingehend be-
schrieben. Somit haben die Grundsätze
der Sozialen Marktwirtschaft staatsrecht-
liche Qualität erlangt, die auch für das
Verfassungsgefüge von Bedeutung sind.
Die Europäische Kommission hat in ih-
rer Mitteilung vom 13./14. Juni 1990 den
Vertrag vom 18. Mai 1990 über die Schaf-
fung einer Währungs-, Wirtschafts- und
Sozialunion zwischen der Bundesrepu-
blik Deutschland und der ehemaligen
DDR mit dem Gemeinschaftsrecht ver-
einbar erklärt. Das Europäische Parla-
ment kam in seiner Entschließung vom


  1. Juli 1990 zum gleichen Ergebnis.
    Im Vertrag von Maastricht vom 7. Fe-
    bruar 1992 wurden die Grundzüge der So-
    zialen Marktwirtschaft im europäischen
    Recht völkerrechtlich verankert. In Arti-
    kel 2 und 3 a des Vertrags sind die wich-
    tigsten Kriterien einer Sozialen Markt-
    wirtschaft postuliert. In Artikel 3 Absatz
    3 des Vertrags von Lissabon ist die „sozia-
    le Marktwirtschaft“ mit ihren Elementen
    sogar wörtlich erwähnt. Der frühere Vor-
    sitzende der Ludwig-Erhard-Stiftung
    und langjährige Staatssekretär im Bun-
    deswirtschaftsministerium, Professor
    Schlecht, hat dies als Übernahme der So-
    zialen Marktwirtschaft in das europäi-
    sche Wirtschafts- und Finanzrecht be-
    zeichnet.
    Durch diese nationalen und europäi-
    schen Rechtsakte hat die Soziale Markt-
    wirtschaft eine noch stärkere Ausprä-
    gung im deutschen Verfassungsrecht er-
    halten.
    DR. THEO WAIGEL, BUNDESMINISTER A. D.,
    MÜNCHEN


Die Tücke des saarländischen „aber“


Wie im Freistaat Bayern


Die Frist für den Brexit verlängern


In den Länderspielpausen


Die Soziale Marktwirtschaft hat Verfassungsrang

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