Frankfurter Allgemeine Zeitung - 04.09.2019

(Ron) #1

SEITE 8·MITTWOCH, 4. SEPTEMBER 2019·NR. 205 Zeitgeschehen FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


B


oris Johnson, Premierminister des
Vereinigten Königreichs seit ein
paar Wochen, will den Austritt des
Landes aus der EU zum 31. Oktober
um jeden Preis, mit oder ohne Abkom-
men. Genau deswegen hat ihn die gro-
ße Mehrheit der Mitglieder der Konser-
vativen auf den Schild gehoben: John-
son will einen No-Deal-Brexit, mag er
auch das Gegenteil behaupten. Nur so
ist zu erklären, dass Johnson im Macht-
kampf mit dem Parlament aufs Ganze
geht; dass er sogenannten Rebellen im
eigenen Lager mit Rausschmiss droht.
Die Erregung über den „Backstop“, die
Rückfallversicherung für die irisch-
nordirische Grenze, ist Theater oder
Vorwand. Es gibt viele Brexiteers, de-
nen Nordirland gleichgültig ist, so wie
die Mehrheit der Parteimitglieder die
Abspaltung dieses Landesteils hinnäh-
me, wenn es nur den Brexit gäbe. Die
Partei hat sich radikalisiert. Immerhin
gibt es noch Leute wie den früheren
Schatzkanzler Hammond, die sich
nicht einschüchtern lassen. Und den-
noch: Gut drei Jahre nach dem Referen-
dum muss man feststellen, wie sehr
der Brexit Politik und Gesellschaft in
feindliche Lager zerteilt. K.F.


W


enige Tage vor den Regionalwah-
len in Russland sind die ersten
Teilnehmer der Proteste dieses Som-
mers zu Gefängnisstrafen verurteilt
worden. Die Vorwürfe der Staatsan-
waltschaft sind zweifelhaft, aber selbst
wenn die Anklage recht hätte, wären
die Urteile unverhältnismäßig hart. Ei-
ner der Verurteilten muss für zwei Jah-
re ins Gefängnis, weil er im Getümmel
einen Polizisten geschubst haben soll,
als die Sicherheitskräfte mit roher Ge-
walt aus einer Menschenmenge heraus
willkürlich Demonstranten verhafte-
ten und prügelten. Es ging in diesen
Verfahren nicht um Wahrheitsfindung
und Ahndung von Straftaten, sondern
um Abschreckung vor der Teilnahme
an friedlichen Demonstrationen. Die
Vorwürfe sind so konstruiert, dass es
jeden treffen könnte, der bei einem
Protestzug den Sicherheitskräften
nicht rechtzeitig aus dem Weg geht –
mit anderen Worten: jeden, der es
wagt, daran teilzunehmen. Die zuneh-
mende Härte der Repressionen, so-
wohl gegen einfache Demonstranten
als auch gegen die Köpfe der Oppositi-
on, ist ein Zeichen der Nervosität des
Putin-Regimes. rve.


M


it der Deutschen Umwelthilfe
kann man sich gut streiten. Das
hat das Land Bayern getan, und es hat
verloren. Seit 2017 steht endgültig fest,
dass wenigstens punktuelle Fahrverbo-
te vorbereitet werden müssen, um die
teils massiven Überschreitungen der
zulässigen Stickstoffdioxid-Belastung
in München zu senken. Dieses Urteil
des Verwaltungsgerichtshofs muss der
Regierung nicht gefallen, aber sie
muss es befolgen – wobei sich ihr ohne-
hin zahlreiche Möglichkeiten zur Ent-
schärfung bieten. Stattdessen hat sie
beschlossen, die Entscheidung der drit-
ten Gewalt zu ignorieren. Jeder Bür-
ger, der in ähnlicher Weise verfahren
wollte, würde mit dem Instrumentari-
um des Zwangsvollstreckungsrechts
Bekanntschaft machen. Dass es gegen-
über Behörden zahnloser ausgestaltet
ist, liegt auch daran, dass der Gesetzge-
ber solche Renitenz beim Staat für un-
vorstellbar hielt. Dass der EuGH diese
Lücke im deutschen Recht nun schlie-
ßen soll, ist nicht unproblematisch und
auch peinlich für ein Land, das gegen-
über anderen EU-Staaten gern penibel
auf Rechtsstaatlichkeit und Gewalten-
teilung pocht. cvl.


Vor zwei Wochen stand Péter Vida
abends mit einem Plakat vor dem
Hans-Otto-Theater in Potsdam. Drin-
nen sollte gleich die Wahlarena des
RBB mit den Spitzenkandidaten der
Parteien beginnen. Vida war nicht ein-
geladen worden, weil die Wahlchancen,
die er und seine Freien Wähler hätten,
als zu gering galten. Nun hat der 35 Jah-
re alte Rechtsanwalt alle eines Besse-
ren belehrt. Die Brandenburger Verei-
nigte Bürgerbewegungen/Freie Wähler
sind mit 5,0 Prozent und fünf Abgeord-
neten in den Landtag eingezogen. Ihr
Landeschef Vida hat mit 23,9 Prozent
das Direktmandat im Wahlkreis Bar-
nim geholt, in dessen Zentrum, der
Stadt Bernau, Vida wohnt. Er besiegte
die Landtagspräsidentin Britta Stark
von der SPD und Ralf Christoffers, den
Fraktionschef der Brandenburger Lin-
ken, die beide nicht mehr im Parlament
vertreten sein werden. Der Doppel-
schlag ist „der größte Erfolg in unsrer
Geschichte“, wie Vida nach der Wahl
sagte. Er hatte die Vereinigung vor
zehn Jahren gegründet.
Seinen Erfolg hat Vida einem ge-
schickten Sozialpopulismus zu verdan-
ken. Von Bernau aus startete er eine In-
itiative für die Abschaffung der Straßen-
ausbaubeiträge, die viele Bürger belas-
teten. In wenigen Monaten konnten
Vida und seine Mitstreiter mehr als
100 000 Unterschriften sammeln. Die
nun abgewählte rot-rote Landesregie-
rung sah sich kurz vor der Wahl ge-
zwungen, die Beiträge abzuschaffen.
Vida nimmt sich stets Themen an, die
bei den Bürgern für Unmut sorgen. So
ist er entschiedener Gegner der Wind-
kraft, deren Ausbau den ländlichen
Raum trifft. Und er engagiert sich im
Streit um die „Altanschließer“, in dem
es um die Gebühren für die Wasser-
und Abwasseranschlüsse geht, die noch
zu DDR-Zeiten verlegt worden waren.
Vida hat es zu einer Art politischer
Kunstform erhoben, den Zorn der Bür-
ger zu Volksbegehren umzuschmieden.
Dieser Sozialpopulismus hat ihm in der
Kommunalpolitik und nun bei der
Landtagswahl Zustimmung einge-
bracht.
Und zwar so viel, dass ein Bündnis
von SPD, CDU und BVV/Freie Wähler
eine hauchdünne Mehrheit von 45 der
88 Sitze im Landtag hätte. Doch dazu
wird es wohl nicht kommen, auch wenn
SPD und CDU sagen, dass sie auch mit
Vidas Truppe reden werden. Denn die
Freien Wähler sind eine unerfahrene
Kraft, die zwar heiße Eisen aufgreift,
aber kein umfassendes Programm hat.
Vida wurde in Schwedt geboren, hat
aber in seiner Kindheit in Ungarn, der
Heimat seines Vaters, gelebt. Schon vor
15 Jahren engagierte er sich in der
CDU, wurde aber vom Bundesparteige-
richt ausgeschlossen, weil er in Bernau
mit einer eigenen Liste angetreten war.
Vor fünf Jahren kam Vida mit Glück in
den Landtag in Potsdam. Ein früherer
SPD-Mann hatte für die Freien Wähler
ein Direktmandat gewonnen und setzte
so die Fünfprozenthürde außer Kraft,
so dass auch Vida und eine weitere Ab-
geordnete einziehen konnten. Das Trio
zerstritt sich bald, die Mitstreiter traten
aus den Freien Wählern aus, Vida blieb
als Einzelkämpfer zurück. In dieser Rol-
le nervte er mit seinen Reden und Pres-
sekonferenzen die anderen Abgeordne-
ten zuverlässig. So wird es wohl blei-
ben. MARKUS WEHNER

WARSCHAU,3. September
Aus den meisten polnischen Reaktionen
auf die Gesten und Worte von Bundesprä-
sident Frank-Walter Steinmeier während
seines Besuchs zum 80. Jahrestag des
deutschen Überfalls auf Polen sprachen
Hochschätzung und Anerkennung. Doch
das Thema, das seit einigen Wochen aus
den Reihen der nationalkonservativen
polnischen Regierungspartei „Recht und
Gerechtigkeit“ (PiS) wieder offensiv vor-
getragen wird, schwang in vielen Äuße-
rungen zur Teilnahme Steinmeiers und
Bundeskanzlerin Merkels an den Ge-
denkfeiern in Wielun und Warschau mit:
Reparationen für Polens Verluste durch
die Besatzung im Zweiten Weltkrieg und
deren Folgen. Ministerpräsident Mateusz
Morawiecki sagte in seiner Gedenkrede
auf der Danziger Westerplatte, man müs-
se „über diese Verluste reden, erinnern,
die Wahrheit verlangen und Wiedergut-
machung verlangen“. Stunden später saß
er mit der Bundeskanzlerin in Warschau
in einer Limousine; beide ehrten durch
Kranzniederlegung die Warschauer Op-
fer des Besatzungsterrors. Staatspräsi-
dent Andrzej Duda sagte am Wochenen-
de, Polens Parlament werde bald „eine
Rechnung vorlegen“.
Auf der obersten Ebene der polni-
schen Politik wird das Thema seit Som-
mer 2017 wieder vorgetragen, als PiS-Par-
teichef Jaroslaw Kaczynski es auf einer
Parteiveranstaltung aufgriff. Damals ent-
stand im polnischen Parlament eine lo-
ckere „Arbeitsgruppe zur Schätzung der
Höhe der Entschädigungen, die Polen für
die während des Zweiten Weltkriegs zu-
gefügten Schäden zustehen“ – so der offi-
zielle Name. Seitdem kündigen Regie-
rungspolitiker immer wieder an, bald
werde man Deutschland eine „Rech-
nung“ vorlegen; genauer gesagt, die Ar-
beitsgruppe werde das tun, wenn sie ihre
Arbeit abgeschlossen habe. Ein Minister
nannte in Warschau 2017 schon mal eine
Schadenssumme von „bis zu 840 Milliar-
den Euro“. Die rechte Publizistik geht so-
gar in die Billionen.
Worauf wollen Polens Regierende ei-
gentlich hinaus? Von der Arbeitsgruppe

wird man das kaum erfahren. Ihr gehö-
ren fast ausschließlich PiS-Politiker an.
Auch der Vorsitzende, der 1971 im ober-
schlesischen Ratibor geborene Rechtsan-
walt und Abgeordnete Arkadiusz Mu-
larczyk, gab sich bisher – gerade gegen-
über Anfragen deutscher Medien – zuge-
knöpft. Es gibt auch keine klaren Belege
dafür, dass Polens Repräsentanten das
heikle Thema bereits auf höchster Ebene
gegenüber Deutschland angesprochen
hätten. Diplomaten haben dies versucht,
stießen aber, wie zu hören ist, in Berlin
auf eine „Mauer des Schweigens“. Mu-
larczyk hat im August gesagt, die Frage
sei ein gutes Thema für die nächste Legis-
laturperiode – also für die Zeit nach der
Parlamentswahl, die am 13. Oktober
stattfinden wird. Sollte die PiS noch ein-
mal gewinnen, was gut möglich ist, wird
die Frage von Reparationen oder (an Ein-
zelpersonen gerichteten) Entschädigun-
gen sicher wiederkehren.
Aber was soll damit erreicht werden?
Der aktuelle Kontext: Polen ist selbst mit
finanziellen Forderungen und Fragen

nach dunklen Flecken in seiner eigenen
Vergangenheit konfrontiert. Stärker als
je zuvor wird heute in Wissenschaft und
Publizistik die NS-Kollaboration in Euro-
pa ausgeleuchtet. Auch wenn es eine
staatlich organisierte Kollaboration in Po-
len nicht gab, so hat doch der einheimi-
sche Antisemitismus unter den Bedingun-
gen der Not und der Gewalt der Kriegs-
zeit – und ermuntert und belohnt von der
Besatzungsmacht – unter den polnischen
Juden zahlreiche Opfer gefordert. Dass
sich darauf die Scheinwerfer richten,
während sich im Ausland das Wissen
über Polens Kriegsschicksal, über die
Brutalität des Besatzungsterrors und die
gigantischen Verluste, ansonsten in Gren-
zen hält, führt zu der Befürchtung, hier
solle Schuld „umverteilt“ werden.
Hinzu kommt, dass unter Präsident Do-
nald Trump in Amerika die ebenfalls seit
vielen Jahren erhobene Forderung, Po-
len müsse Restitutionsforderungen jüdi-
scher Organisationen nachkommen, lau-
ter artikuliert wird als zuvor. Seit 2018
gibt es dazu sogar ein Gesetz: den „JUST

act“ – die Abkürzung bedeutet „Gerech-
tigkeit für nicht entschädigte Überleben-
de heute“. Das Gesetz verpflichtet das
Außenministerium, dem Kongress bis zu
diesem Herbst einen Bericht vorzulegen
über das einstige Eigentum von Holo-
caust-Opfern in Europa und über eine
mögliche Rückgabe oder Entschädigung
dafür. Dabei geht es großenteils um Ei-
gentum ohne Erben, das verstaatlicht
wurde; ein „jüdisches Kollektiv“ könne je-
doch darauf Ansprüche erheben, sagte
ein Vertreter der „World Jewish Restitu-
tion Organisation“ dieser Zeitung.
Regierungschef Morawiecki sagte
dazu, das im Krieg „massakrierte“ Polen
habe „das Recht, riesige Entschädigun-
gen zu fordern und nicht selbst Ziel sol-
cher Forderungen zu sein“. Hier sind die
Rollen spiegelverkehrt: Polnische Politi-
ker versichern, die Repräsentanten Ame-
rikas hätten das heikle Thema auf höchs-
ter Ebene nie angesprochen. Aber Außen-
minister Mike Pompeo, dazu – in einem
Brief – 88 Senatoren haben das jüdische
Anliegen öffentlich unterstützt. Ein Teil
des Problems liegt darin, dass Polen es
seit 1989 vermieden hatte, ein allgemei-
nes Gesetz über Restitution für alle Bür-
ger zu verabschieden.
Die Rechtslage ist die eine Seite, der
Aufbau moralischen Drucks auf andere
Länder oder Interessengruppen die ande-
re Seite in diesem mehrseitigen Konflikt.
Auch viele PiS-Politiker glauben kaum
daran, dass Polen tatsächlich dreistellige
eine Euro-Milliardensumme erhalten
wird. So sagte der Soziologieprofesser
Andrzej Zybertowicz, ein Berater Präsi-
dent Dudas, er schätze die Chance, dass
Polen „eine seriöse Summe“ erhalte, auf
30 Prozent, aber man müsse am Thema
festhalten. Etliche PiS-Politiker, vorige
Woche etwa der Senator Jan Zaryn, sa-
gen denn auch, mindestens ebenso wich-
tig wie das Erreichen eines finanziellen
Ziels sei beim Reparationsthema der auf-
klärerische Effekt: Die Debatte darüber
sei eine große Geschichtslehrstunde –
für Polens Nachbarn, aber auch für die
Polen selbst, die bis 1989 ihre Vergangen-
heit nur verzerrt erforschen und wahr-
nehmen durften.

Péter VIDA Foto dpa

Abschreckung in Moskau


E


s ist schon Wochen her, da twitter-
te der thüringische AfD-Bundes-
tagsabgeordnete Stephan Brand-
ner ein bisschen Häme in Richtung seiner
Parteifreunde im Westen. Gerade hatte
die AfD in Nordrhein-Westfalen in einer
Forsa-Umfrage magere sieben Prozent er-
reicht, da schrieb Brandner: „Naja, Freun-
de aus NRW: Da sollte doch noch was ge-
hen, oder?“ Dazu stellte er einen Smiley,
der sich ein Monokel an das Auge hält.
Ganz so, als müsste man die Umfragewer-
te der nordrhein-westfälischen AfD mit
dem Vergrößerungsglas suchen. In Thü-
ringen hingegen steht die Partei laut Infra-
test bei 24 Prozent.
Solange es um Umfragewerte geht,
muss sich Brandner wie ein Riese fühlen.
Geht es aber um die Partei, ist er als Thü-
ringer doch ein Zwerg. Brandner wird das
spüren, wenn er zum nächsten Bundespar-
teitag mit 22 Delegierten anreist. Erfah-
rungsgemäß schaffen es die Thüringer,
eine halbe Stuhlreihe zu füllen, die nur da-
durch auffällt, dass Pressefotografen stän-
dig den Vorsitzenden Björn Höcke bela-
gern. Hätte die AfD überall so wenige Mit-
glieder wie in Thüringen, man könnte
den Parteitag in einem Biergarten veran-
stalten und hätte noch Platz für die Ver-
pflegung der Gegendemonstranten. Dass
das nicht geht, liegt unter anderem an
den Delegierten aus Nordrhein-Westfa-
len, dem mitgliederstärksten Landesver-
band der AfD. Die Nordrhein-Westfalen
haben allein so viele Delegierte wie Thü-
ringen, Brandenburg und Sachsen zusam-
men, nämlich 92. Im Osten hat die AfD
zwar ihre Wählerhochburgen, im Westen
aber hat sie ihre Mitglieder.
So wird es bleiben. Dass die AfD im Os-
ten beliebter ist, ändert daran nichts: Auf
100 000 Einwohner gerechnet, sind in
Thüringen zwar 56,2 Menschen Mitglied

der AfD und in Nordrhein-Westfalen nur
28,7. Aber Nordrhein-Westfalen hat fast
18 Millionen Einwohner und Thüringen
nur rund zwei Millionen. Die Landesver-
bände wachsen im Osten nicht in dem
gleichen Maße wie ihre Fraktionen in den
Landtagen. Und die Führung einer Partei
wird von den Mitgliedern bestimmt, nicht
von den Wählern.
Der Bedeutungszuwachs des Ostens ist
deshalb ein Gefühl. Er wird nur über den
Umweg von Argumenten und Denkmus-
tern einen Einfluss haben. Das wiederum
muss erst im Bewusstsein der Mitglieder
ankommen. Die Rede von der AfD als Ost-
partei beginnt gerade erst, sie muss sich
setzen.
Besonders in der AfD lassen sich die
Machtdynamiken nicht immer mit der
Mitgliederstruktur erklären. Es macht ei-
nen Unterschied, ob sich eine Gruppe er-
muntert fühlt oder nicht. In Parteien sind
immer mindestens neunzig Prozent der
Mitglieder passiv. Das Zehntel, das etwas
tut, besteht mal aus den einen, mal aus
den anderen – und in der AfD kann dieser
Wechsel sehr schnell gehen. Nach den
Ost-Wahlen werden es die Radikalen
sein, die Kraft spüren. Und sie werden an
den zwei Sollbruchstellen der Partei auf-
treten, dem Clinch zwischen Nationalkon-
servativen und Rechtsradikalen, und je-
nem zwischen Wirtschaftsliberalen und
Nationalsozialen.
Nationalsoziale und Rechtsradikale
gibt es auch im Westen viele, eine Bal-
lung im Osten lässt sich aber nicht leug-
nen. Sozial betrachtet, hat sich die West-
AfD stets als Partei des gehobenen Bürger-
tums gesehen, die Ost-AfD hingegen als
Advokat des kleinen Mannes. Das prägt
auch den Stil. Im Osten sind die Hemmun-
gen kleiner, im Westen größer. Im Osten
ist der Radikalismus unangefochtene Par-

teilinie, im Westen finden noch Rich-
tungskämpfe statt – deshalb die Querelen
in Baden-Württemberg, Bayern oder
Schleswig-Holstein. So kommt es, dass es
häufig Westfunktionäre sind, die Ostfunk-
tionäre ermahnen, keine Hakenkreuzfah-
nen von Hotelbalkonen zu hängen oder
keine Kontakte mit der rechtsextremen
„Identitären Bewegung“ zu pflegen. Sie
sind es auch, die in der Rentenpolitik eine
Privatisierung des bestehenden Systems
anstreben und die Sozialstaatspläne ihrer
Thüringer Parteifreunde bremsen. Wer-
den sich die erfolgsverwöhnten Ostfunk-
tionäre das in Zukunft noch gelehrig an-
hören?
AfD-Funktionäre sind keine Phrasenro-
boter, auch wenn sie dem radikalen Lager
angehören. Höcke zum Beispiel ist be-
kannt dafür, nach radikalen Ausfällen in
wochenlange Phasen der Verschüchte-
rung zu verfallen, wenn ihm die Kritik sei-
ner gemäßigten Parteifreunde berechtigt
erscheint. Das Gegenteil geschieht, wenn
Argumente ihre Überzeugungskraft ver-
lieren. Über Jahre haben die Gemäßigten
den Radikalen gepredigt, dass die Partei
nur in der ideologischen Mitte noch wach-
sen könne; dass sie durch Höcke und ande-
re ihre Anschlussfähigkeit an das Bürger-
tum im Westen verliere und im Osten den
radikalen Narrensaum der Gesellschaft
längst ausmobilisiert habe. Sie haben den
Weg der Radikalisierung als Sackgasse
verkauft. Wem soll das in der Ost-AfD
nach diesem Wahlwochenende noch ein-
leuchten?
In Sachsen wurde mit 27,5 Prozent gera-
de das beste Ergebnis der Parteigeschich-
te erzielt; in Brandenburg wurde die AfD
vor der Wahl als stärkste Kraft gehandelt;
trotz Radikalisierung, trotz Beobachtung
des rechtsradikalen Parteiflügels durch
den Verfassungsschutz, trotz abflauender

Flüchtlingskrise. Hätte der Nimbus der
Partei, den die Gemäßigten meinen,
schlimmer sein können als in diesem
Jahr? Die Wähler haben die AfD nicht be-
straft, sie haben ihre Skandalträger be-
lohnt: in Sachsen den Pegida-Apologeten
Jörg Urban, in Brandenburg den Athen-
Demonstranten Andreas Kalbitz. Und im
Westen? Dort ist die AfD trotz aller Skan-
dale keineswegs abgestürzt, sondern seit
Jahren auf vergleichsweise niedrigem bis
mittlerem Niveau stabil.
In der AfD gibt es keine härtere Wäh-
rung als Wahlergebnisse. Seit ihrer Grün-
dung hat sich die AfD wie ein lernender
Organismus verhalten und den Erfolg ge-
sucht. Ihre Politiker haben nach dem Ab-
flauen der Euro-Krise begonnen, über
Flüchtlinge und Muslime zu sprechen.
Warum? Weil der Applaus an diesen Stel-
len der Parteitagsreden lauter war. Über
Homosexuelle hingegen sprachen sie nur
verdruckst, obwohl es in der Partei sehr
eindeutige Positionen dazu gibt. Warum?
Weil das Thema nicht zündete. Welche
Verführungskraft hochprozentige Wahler-
gebnisse verheißen, war schon am Tag
nach der Wahl beim westdeutschen AfD-
Vorsitzenden Jörg Meuthen zu beobach-
ten. Der pries den Osten in den höchsten
Tönen: Nicht „Dunkeldeutschland“, son-
dern „Helldeutschland“ sei der Osten!
Von dort werde die AfD das Land er-
obern, tönte Meuthen. Auf Nachfrage sah
er gleichwohl keinen Grund, warum die-
se lichthellen Landeroberer nun mehr Sit-
ze im Bundesvorstand seiner Partei be-
kommen sollten als zuvor. Rechnerisch er-
gibt das Sinn – aber argumentativ? In sei-
ner Eroberungsstimmung könnte der Os-
ten einfach mit der Parteiführung anfan-
gen, und sich das Land für später aufhe-
ben. Dann wäre Meuthen einer der Ers-
ten, die mit dem Monokel vor dem Auge
beäugt werden.

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Feindliche Lager


Gewaltenteilung


Rechnung aus Warschau?


Polens Reparationsforderungen an Deutschland haben viele Gründe / Von Gerhard Gnauck


Warschau 1944:Von den deutschen Truppen zerstört Foto dpa

Verführungskraft des Hochprozentigen


Der Osten, der Westen und die Sollbruchstellen in der AfD / Von Justus Bender

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