Der Spiegel - 03. August 2019

(Sean Pound) #1

sich in Addis Abeba seinen Traum von ei-
nem Leben als Pilot zu erfüllen.
Er war ein strebsamer junger Mann mit
hoher Stirn, schmal, fast hager, ein um-
gänglicher Mensch. Er war der jüngste
Absolvent der Flugschule von Ethiopian
Airlines, ein Pilot, der trotz seiner erst
29 Jahre mehr als 8000 Stunden im Cock-
pit verbracht hatte. Ein Musterschüler.
Boeing-Lobbyisten werden versuchen, die
Piloten, auch Getachev, als inkompetent
hinzustellen und ihr Versagen zur Haupt-
ursache der Abstürze zu erklären, aber
das ist offenkundig unwahr. Der in den
USA bekannte Pilot und Buchautor Pa-
trick Smith wird in der Sache einen ame-
rikanischen Fluglehrer zitieren, der Geta-
chev ausbildete. Der Lehrer habe über
den jungen Kollegen stets in den höchsten
Tönen gesprochen und ihn als »exzellen-
ten Piloten« beschrieben, der »immer gut
vorbereitet« zur Arbeit gegangen sei.
Jackson Musoni ist tot, der Ruander ar-
beitete für das Uno-Flüchtlingshilfswerk
im Sudan, im Osten Darfurs, er hinterlässt
eine Frau und drei kleine Kinder.
Jonathan Dubois-Seex ist tot, in Kenia
geboren, in Schweden aufgewachsen, mit


einer Französin verheiratet, dreifacher Va-
ter, er war für das Restaurantunternehmen
Tamarind unterwegs.
Sebastiano Tusa ist tot, ein Meeresar-
chäologe aus Italien, er war auf dem Weg
zu einer Unesco-Konferenz.
Stephanie Lacroix aus Kanada ist tot,
sie führte eine kleine Gruppe junger Ka-
nadier, die auf dem Weg zu einer Umwelt-
schutzkonferenz waren.
157 Menschen sind tot. Was von ihnen
blieb, wurde anfangs in einem Neben -
gebäude des Flughafens in Addis Abeba
aufbewahrt, in Kühlcontainern, in denen
üblicherweise Rosen für den Export ge -
lagert werden. Später wurden die Leichen-
teile ins St. Paul’s Hospital gebracht. Es
wird voraussichtlich noch Monate dauern,
bis die Fragmente zugeordnet werden kön-
nen. In den Särgen, die während der Trau-
erzeremonie auf dem Friedhof der Kathe-
drale der Heiligen Dreifaltigkeit in Addis
aufgebahrt waren, befand sich nur Erde
vom Unglücksort.

Eine halbe Welt entfernthaben die New
Yorker Anwälte Moller und Green Unter-
lagen vor sich ausgebreitet, die den Flug-

verlauf zeigen, den Anstellwinkel der Ma-
schine, ihre Geschwindigkeit zu unter-
schiedlichen Zeitpunkten – die Daten sind
als farbige, gezackte Linien in ein Koordi-
natensystem eingetragen, das nur Exper-
ten interpretieren können. Moller hat da-
für seinen Kollegen Green. Er selbst glaubt:
»Die Ursachen, warum das Flugzeug un-
verantwortlich gefährlich designt war, sind
Profitstreben und Kostensenken.«
Man müsse den Fall häuten wie eine
Zwiebel. Eine Schale nach der anderen
müsse man abpellen, um die Tragödie zu
verstehen. Wenn man bei der innersten
Schicht angekommen sei, dann sei da der
Wettbewerb zwischen Boeing und Airbus.
»Wir glauben, dass die Beweise, die im
Gerichtsverfahren herauskommen, diesen
kommerziellen Druck zeigen werden«,
sagt Moller. Die Profitabilität beider Fir-
men hänge von nur wenigen Produkten
ab, und beim wichtigsten, dem Kurz- und
Mittelstreckenflugzeug, sei Boeing gegen-
über Airbus zurückgefallen. Alte Boeing-
Kunden hätten plötzlich bei Airbus ge-
kauft. Sie zogen die neuen A320 den alten
737 vor. Boeing musste handeln, schnell.
Statt ein neues Flugzeug zu konzipieren,

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EDUARDO SOTERAS JALIL

Absturzstelle in Ejere, Äthiopien

Mit 926 Kilometern pro Stunde raste die Maschine am Ende auf den Grund zu.


DER SPIEGEL Nr. 32 / 3. 8. 2019
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