Der Spiegel - 03. August 2019

(Sean Pound) #1

tricksten die Ingenieure weiter an der ver-
alteten 737 herum, sagt Moller, am Ende
hatten sie ein Flugzeug entworfen, das ge-
fährlich designt war. Moller klingt so, als
säßen die Geschworenen schon vor ihm.
Er stellt rhetorische Fragen, die er gleich
selbst beantwortet, er lässt vor seinen Zu-
hörern das Bild eines schlingernden Flug-
zeugs entstehen, geschüttelt von einer wild
gewordenen Software, mit einer überfor-
derten Besatzung, alles in niedriger Höhe,
viel zu nah am Boden, weil an der Maschi-
ne nicht viel stimmt.
»Du hast da also ein Flugzeug, das an-
fällig für einen Crash ist«, sagt Moller. Na-
türlich wollten die Ingenieure niemanden
töten, natürlich nicht. Aber sie hätten eben
nur noch Argumente gesehen, die zu ih-
rem Ziel passten: Und das Ziel sei gewesen,
möglichst schnell ein Flugzeug abzuliefern,
das neu aussah, das weniger Sprit ver-
brauchte, das die Airlines haben wollten
und das von den Piloten ohne weiteres
Training sofort geflogen werden konnte.
In den kommenden Verfahren und Er-
mittlungen wird auf der Zeit zwischen
dem Absturz in Indonesien und dem in
Äthiopien besonderes Augenmerk liegen,
es ist die für Boeing gefährlichste Phase.
Wenn die Anwälte nachweisen könnten
oder Zeugen dafür fänden, dass Leute bei
Boeing oder von der Luftaufsicht nach
dem Crash der Lion Air vor dem Weiter-
betrieb der 737 Max warnten, sähe es in
der Schuldfrage schlecht aus. Sollte ir -
gendwer bei Boeing auch nur »Kenntnis«
von Risiken des Systems gehabt haben,
wird es eng.
Der alte Anwalt ist zuversichtlich, dass
der Fall zu gewinnen ist. Er will vor Ge-
richt über Vertrauen reden, und er macht
das schon im Vorfeld sehr gut. »Du gehst
in ein Flugzeug, setzt dich auf Sitzplatz
10C oder 14F, und du hast keine Ahnung,
wer der Pilot ist«, sagt Moller. »Du hast
keine Ahnung, wer als Letztes an dem
Flugzeug herumgeschraubt hat. Du setzt
dich hin, schnallst dich an und sorgst dich
sogar noch, dass du aufrecht sitzt und die
Füße aufstellst. Du bist in dieser Röhre ein-
gesperrt. Alle müssen absolutes Vertrauen
haben in die Ausrüstung und die Personen,
die alles bedienen. Und wenn die Firma,
die das Flugzeug gebaut hat, nur den lei-
sesten Hauch eines Verdachts hat, nur den
geringsten Zweifel, dann muss es heißen:
›Don’t fly. Diese Maschine muss stillgelegt
werden.‹«
Die ersten Klageschriften der Kreindler-
Anwälte sind beim Bezirksgericht von
Chicago bereits eingereicht. Chicago, weil
dort seit nunmehr fast 20 Jahren der
Boeing-Vorstand und die Konzernleitung
sitzt, fernab der Werkshallen von Seattle.
»Und es war schließlich der Vorstand von
Boeing, der das 737-Max-Projekt abge-
zeichnet hat«, sagt Green. Die New Yorker


Anwälte wissen auch schon, wer der Rich-
ter sein wird. Alonso heißt er, ein jugend-
lich wirkender Typ, eingesetzt zu Zeiten
von Präsident Barack Obama. »Es ist sein
erster großer Luftfahrtfall«, sagt Green.
Die Kreindler-Leute werden mit schar-
fen Anträgen auftreten. Es geht ihnen
nicht nur um Schadensersatzzahlungen,
die verstehen sich von selbst, die Rede ist
von dreistelligen Millionenbeträgen. Die
100 Millionen Dollar, die Boeing Anfang
Juli als Kompensation für alle Hinter -
bliebenen anbot, dürften in ihren Augen
ein Witz sein. Vor allem wollen Moller
und Green eine Sonderform von Schadens -
ersatz erstreiten, die es in dieser Art in
Deutschland nicht gibt: Sie wünschen sich

15

Titel

10 km

10 km

nach etwa
12 Minuten

nach etwa
6 Minuten

Beide Flugzeuge
verloren in den ersten
Flugminuten an Höhe.

5000
(1,5 km)

Doppeltes Desaster


Ethiopian-Airlines-Flug 302


Höhe über Grund in Fuß


Addis Abeba

Jakarta

Start 10. März
2019
8.38 Uhr

Start 29. Oktober
2018
6.20 Uhr

letzte Positionsdaten
um 8.41 Uhr

letzte Positionsdaten
um 6.31 Uhr

Absturzstelle

Absturzstelle

ÄTHIOPIEN

INDONESIEN
Lion-Air-Flug 610

Ethiopian-Airlines-
Flug 302 Lion-Air-Flug 610

Quelle: Flightradar

Quelle: Flightradar

Quellen:
Untersuchungsberichte

die Verhängung von »punitive damages«
gegen Boeing, was übersetzt so viel heißt
wie Schadensersatz mit Bestrafungscharak-
ter. Ende Juni gab es eine Anhörung bei
Alonso, und die machte ihnen Hoffnung:
Der Richter hat den Fall akzeptiert, und
sie dürfen ihre Beweise benennen.
Kommen Moller und Green mit ihrer
Strategie durch, hätte das für Boeing gra-
vierende Folgen: Die Kompensation bei
Strafschadensersatz würde sich verdrei -
fachen, und die Versicherung von Boeing
dürfte für die Summe nicht aufkommen.
Damit stünde die Existenz des Boeing-
Konzerns auf dem Spiel.

Die Boeing 737 ist daserfolgreichste je
gebaute Serienflugzeug der Welt. Seit 1968
sind mehr als 10 500 Maschinen dieses
Typs ausgeliefert worden. Im Schnitt star-
tet oder landet alle 1,5 Sekunden eine
737 irgendwo auf Erden, und in jedem
Augenblick sind rund 2900 der
Kurz- und Mittelstreckenjets in der
Luft.
Technische Avantgarde war der Flieger
nie. Als Boeing die Maschine in den Sech-
zigerjahren konzipierte, übernahm die Fir-
ma möglichst viele Bauteile aus bestehen-
den Programmen. Die Nase, der Rumpf
und auch die langen, schmalen Triebwerke
waren fast identisch mit denen der drei-
strahligen 727. Boeing entwickelte zwar
neue Tragflächen, aber im Kern steckte
die Technologie der Fünfzigerjahre in der
737, als sie im April 1967 ihren Erstflug ab-
solvierte.
Die Entwicklung des Flugzeugs war da-
mals schon eine hektische Antwort auf die
Konkurrenz. Der Rivale hieß noch nicht
Airbus, sondern Douglas mit seiner neuen
DC-9. Boeing lag nach eigener Einschät-
zung 17 Monate zurück und setzte alles
daran, zu MacDac, wie der Konkurrent
in der Branche hieß, aufzuschließen. Die
Aufholjagd gelang, aber zu Anfang inte-
ressierte sich kaum eine Fluggesellschaft
für die neue kleine Boeing. Das Projekt
wäre beinahe aufgesteckt worden, obwohl
die Deutsche Lufthansa als Erstkunde ei-
nen Kaufvertrag über immerhin 21 Maschi-
nen unterschrieben hatte.
Erst in den Siebzigerjahren kam der Er-
folg. Boeing hatte eine leicht verlängerte
Version auf den Markt gebracht, und von
diesem Modell – der 737-200 – kauften
die Fluggesellschaften im Lauf der Jahre
1114 Stück. Der Bestseller wurde in den
Achtzigern weiter modernisiert und mit
sparsameren Triebwerken ausgestattet,
aber dabei offenbarte sich zum ersten Mal
das Problem, an dem alle späteren 737-
Modelle und vor allem die Max-Version
krankten.
Moderne Turbinen arbeiten umso spar-
samer, je größer ihr Durchmesser ist. Das
bis heute gebaute und an vielen Flugzeug-
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