Der Spiegel - 03. August 2019

(Sean Pound) #1
Vielflieger
Fluggesellschaften mit der größten
Boeing 737 Max-Flotte

China Southern
Airlines
China

Southwest Airlines
USA^34

American Airlines
USA^24

Air Canada
Kanada^24

24


Norwegian Air
Norwegen^18

Air China
China^16

TUI
Deutschland^15 Quelle: Simpleflying,Stand Juli 2019

mer weiter zu verschlanken und zu opti-
mieren. Die Prozesslogik hat aber auch
dazu geführt, dass der Dreamliner bei Boe-
ing praktisch nur noch endmontiert wird,
die einzelnen Partien stammen von Zulie-
ferern aus den USA und der ganzen Welt,
der Mittelrumpf etwa oder die Tragflächen.
Für die Koordination der Produktion
dieser beiden Komponenten war Bicke -
böller verantwortlich, und was er dabei
entdeckte, muss ihn zutiefst beunruhigt
haben. Schon vor fünf Jahren, im Frühjahr
2014, schickte er erstmals eine umfassende
Beschwerde an die amerikanische Auf-
sichtsbehörde Federal Aviation Adminis-
tration (FAA) und berief sich dabei auf Be-
stimmungen, die Tippgeber vor Bestra-
fung durch ihren Arbeitgeber schützen soll.
Bickeböller klagte auch vor einem Arbeits-
gericht. Der SPIEGELbekam entsprechen-
de Unterlagen zugespielt, andere konnte
er sich unter Berufung auf das amerikani-
sche Informationsfreiheitsgesetz erstreiten
und einsehen. Bickeböller weigerte sich,
mit dem SPIEGELzu reden, doch die Un-
terlagen dokumentieren seine Vorwürfe
gegen Boeing.
Dort heißt es zum Beispiel: »Unter ›Si-
cherheitsangelegenheiten‹ meldete der Be-
schwerdeführer, dass 787-Rumpf-Lieferan-
ten keine Konfiguration der Teile bewerk-
stelligen konnten.« Offensichtlich wurden
Komponenten geliefert, bei denen gar nicht
kontrolliert worden ist, ob sie den ursprüng-
lich vereinbarten Qualitätsmaßstäben und
Eigenschaften überhaupt entsprachen, wo-
möglich also Fehler enthalten könnten und
trotzdem verbaut wurden. Bickeböller teil-
te den Behörden mit, dass die Teile vermut-
lich immer noch an Flugzeugen verbaut
wurden, die bis heute in Betrieb sind.
Die FAA scheint einige von Bickeböllers
Vorwürfen zumindest zum Teil untersucht
zu haben. In einem Dokument schreiben
die Prüfer am 22. Februar 2016 an Bicke -
böller: »Die Untersuchung hat untermau-
ert, dass hier Vorschriften der FAA bezüg-
lich der Sicherheit von Fluggesellschaften
verletzt wurden.« Anderen Vorwürfen
wiederum soll die FAA nicht nachgegan-
gen sein, wie Bickeböller gegenüber der
Easa beklagt. Und statt von seinem Arbeit-
geber Anerkennung für seine Gewissen-
haftigkeit zu bekommen, erhielt er schlech-
te Arbeitsbewertungen und wurde, nach
20 Jahren als Topingenieur, auf schlech-
tere Posten abgeschoben.
Bickeböllers Eingaben stellten eine Ge-
fahr für die geplante Indienststellung der
787 dar, die sich wegen technischer Pro-
bleme ohnehin schon verspätet hatte. Die
Missstände wurden aber offenkundig auch
später nicht behoben, weshalb der Inge-
nieur sich im Juni an die Easa wandte. Pa-
rallel wandte sich Bickeböller, gemeinsam
mit seinem Anwalt, dem Berliner Luftfahrt-
rechtler Elmar Giemulla, auch an den US-


Kongress in Washington. Dort konnte der
SPIEGELebenfalls Dokumente aus dem
Schriftverkehr einsehen. Darin heißt es un-
ter anderem, Management und hohe Füh-
rungskräfte bei Boeing hätten die Anwei-
sung gegeben, die Abstimmungsprobleme
»zu verbergen«, und zwar, um »das Pro-
duktionszertifikat für die 787 zu erhalten«.
Um eine Stellungnahme zu diesen Vor-
würfen gebeten, lässt die Presseabteilung
wissen: »Boeing und die FAA haben die
Vorwürfe untersucht, und Boeing ging auf
alle Bedenken ein.«

Im Boeing-Werk Renton,20 Minuten Au-
tofahrt von Downtown Seattle entfernt
und direkt am Lake Washington gelegen,
dürfte die Kultur nicht wesentlich anders
gewesen sein. 12 000 Ingenieure und Me-
chaniker bauen hier, und nur hier, die
737 Max in zwei großen Werkshallen. Vor
der Krise lag der Ausstoß bei 52 Maschi-
nen pro Monat, die Produktion wurde auf
42 heruntergefahren, das macht bei 21 Ar-
beitstagen zwei pro Tag.
Wie an allen Boeing-Standorten liegen
die Start-und-Lande-Bahnen direkt neben
der Fabrik, in Renton ist es das »Clayton
Scott Field«, benannt nach dem »per -
sönlichen Piloten« des Firmengründers
William Boeing. Die Flächen um das Flug-
feld dienen dieser Tage vor allem als Hal-
de, mit bloßem Auge sind 14 fertig mon-
tierte, aber noch unlackierte 737-Maschi-
nen zu erkennen, die meisten aus der
Generation Max, einige wenige NGs da-
runter. Die 737-Max-Exemplare werden,
weil Flüge ohne Passagiere weiterhin er-
laubt sind, nach und nach zu anderen Flug-
häfen in den USA transferiert, um dort für
den Tag der Wiederzulassung zwischen-
gelagert zu werden. Die Kosten des Flug-
verbots sind enorm.

Das »Grounding« der Jets bedeutet nicht
nur für Boeing, sondern auch für die Zu-
lieferer eine bleierne Zeit.

In Seattle lebt und arbeitet ein Mann,
der alle Aspekte der Boeing-Krise im
Schlaf kennt, weil häufig er selbst es war,
der als Erster von ihnen erfuhr und sie
öffentlich machte. Dominic Gates, ein be-
scheidener Mann Mitte sechzig, hager und
freundlich, ist »Aerospace Reporter« der
»Seattle Times«, und wer in Sachen Boeing
den Stand der Dinge kennen will, muss
seine Artikel lesen. Gates treibt Boeing
vor sich her, seit Monaten tut er nichts
anderes. Eine investigative Geschichte
folgt auf die nächste, und sie fügen sich
zu einem erschütternden Gesamtbefund:
dass mit der Firmenkultur im Weltkonzern
Boeing etwas ganz grundsätzlich nicht
mehr stimmt.
Gates hat sich diese These nicht am
Schreibtisch ausgedacht. Sie hat sich ge-
formt, über Jahre, in Gesprächen mit In-
sidern, durch Beobachtungen, durch Lek-
türe. Er hat die Kontakte, die es braucht,
um Dingen auf den Grund zu gehen, aber
auch, um längere Linien zu sehen. Das hat
ihm in der aktuellen Boeing-Krise eine
zentrale Rolle zugespielt: Als alle Welt
noch rätselte, was sich im Flug und an
Bord der in Äthiopien zerschellten Max
abgespielt haben mochte, kam Gates mit
einer Story, an die man sich bei Boeing
noch lange erinnern wird.
Gestützt auf die Aussagen beteiligter
Ingenieure, beschrieb er, wie die neue
Computersoftware zur automatischen
Nachsteuerung der Heckklappen, die wo-
möglich Auslöser der Abstürze war, erst
in irrwitzigem Tempo entwickelt, dann
verändert wurde – und diese kritischen
Änderungen auch noch vor den Sicher-
heits- und Zulassungsbehörden verheim-
licht worden waren.
Der Reporter schöpfte im Moment der
Katastrophe aus seinem Fundus. Die Aus-
sagen zur Softwareentwicklung hatte er
größtenteils schon vor dem zweiten Ab-
sturz in Äthiopien eingeholt, weil er mit
langem Atem an der Aufklärung des Lion-
Air-Unfalls in Indonesien weitergearbeitet
hatte. Sein Bericht, dem weitere Enthül-
lungen der »New York Times« folgten,
traf den Flugzeughersteller just in dem
Moment, in dem dessen Kommunika -
tionsstrategen versuchten, alle Schuld auf
die Piloten zu schieben. Dank Gates konn-
te diese Desinformationsstrategie nicht
gelingen. Er wurde über Nacht zu einem
der wohl gefährlichsten Gegner des Mil -
liardenkonzerns.
Gates würde das selbst nie so sagen.
Vielleicht verleiht ihm sein eigener Lebens-
weg die Distanz, die es braucht, um nüch-
tern auf die eigene Umgebung zu schauen.
Gates stammt aus Nordirland, der Jour -

18


Titel
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