Der Spiegel - 24. August 2019

(WallPaper) #1

DER SPIEGEL Nr. 35 / 24. 8. 2019 111


R


uch, 38, ist der bekannteste deut-
sche Politkünstler der Gegenwart,
ein Meister der großen Geste, Held
für die einen, Hassfigur für die an-
deren. Mit seinem »Zentrum für Politische
Schönheit« (ZPS) setzt er auf Pathos und
Eskalation. Manchmal schießt er übers Ziel
hinaus, manchmal trifft er mitten rein.
2014 hat Ruchs Truppe mehrere Ge-
denkkreuze für Mauertote entwendet und
an die EU-Außengrenzen transportiert.
Symbolpolitik. 2015 behauptete das ZPS,
auf einem Berliner Friedhof die Leiche ei-
ner Frau beerdigt zu haben, die auf ihrer
Flucht nach Europa gestorben sei. Ein
Spiel mit Realität und Fiktion. 2017 setzten
die Aktivisten dann einen Nachbau des
Berliner Holocaust-Mahnmals auf das
Nachbargrundstück des thüringischen AfD-
Politikers Björn Höcke.
Die bislang jüngste Aktion hieß »Soko
Chemnitz« und attackierte Teilnehmer der
rechten Demonstrationen in Chemnitz



  1. »Wir stehen in einer Zeit der
    Schlacht«, verkündet Ruch nun in einem
    Buch. »Schluss mit der Geduld« heißt es,
    ein Aufruf zum Widerstand.


SPIEGEL:Herr Ruch, bislang kennen wir
Sie nur schwarz geschminkt: in der Maske
des Aktionskünstlers, der die Grenze zwi-
schen Realität und Fiktion ins Wanken
bringt. Warum lassen Sie sich jetzt erst-
mals ungeschminkt fotografieren?
Ruch:Mit einem Buch tritt man aus seiner
Rolle heraus, an die Gesellschaft heran.
Mein Buch ist für mich ein intellektueller
Einwurf, ein »J’accuse«. Ich klage an.
SPIEGEL: Wir können uns heute darauf
verlassen, dass Sie Klartext reden?
Ruch:Rumdrucksen zählt niemand zu
meinen Stärken.
SPIEGEL: Ganz ohne fiktive Narrative?
Ruch:Was ich sage, meine ich schon
so. Hat jemand von Ihnen das Buch ge -
lesen?


Philipp Ruch: »Schluss mit der Geduld. Jeder kann et-
was bewirken – eine Anleitung für kompromisslose
Demokraten«. Ludwig; 192 Seiten; 12 Euro.


SPIEGEL:Die Vorabfassung des Verlags ist
ganz zerfleddert. Schauen Sie.
Ruch:Das war die Sprengkraft!
SPIEGEL:Es gibt eine Passage in diesem
Buch, in der Sie Ihre Aktionen Revue pas-
sieren lassen – und in der Aufzählung nen-
nen Sie auch das Ibiza-Video mit Heinz-
Christian Strache. Fast so, als wäre es eine
Ihrer Aktionen.
Ruch:Das ist ein Missverständnis. In der
Passage geht es um die Macht von Fiktio-
nen. Das Ibiza-Video ist ein gutes Beispiel
für das Werk von »Irren«, die wochenlang
Legenden zusammenstricken, um an der
Realität etwas zu ändern. Wir sind dann
immer etwas zu schnell mit dem Etikett
»Fake«. Im Kern geht es um die Kraft der
Fantasie, der Fiktion.
SPIEGEL:Wären Sie es selbst gern gewe-
sen?
Ruch:Sicher. Wir hatten Pläne in der
Schublade, die dem ähnelten. Aus einer
Macherperspektive können Sie nicht viele
Sachen erfinden, um jemanden wie Stra-
che zu entlarven. Man verfällt da schnell
auf Russland.
SPIEGEL:Was wäre, wenn ein Nachrich-
tendienst die Falle gestellt hätte? Oder eine

Partei? Wäre dies nicht ein Akt politischer
Hässlichkeit?
Ruch:Das finde ich nicht. Ich habe schon
Probleme mit dem Wort »Falle«. Ich habe
großen Respekt vor den Planern.
SPIEGEL:Sind solche Aktionen nicht to-
xisch für den politischen Diskurs? Gehört
es nicht zu den Gepflogenheiten, dass alle
Teilnehmer ohne Maske auftreten, dass
sie mit offenen Karten spielen?
Ruch:Damit wäre dann auch das grie-
chische Theater, der Diskurstreiber der an-
tiken Demokratie, delegitimiert. Ich würde
von einer Inszenierung reden, und die
braucht Zeit. Als Aktionskünstler arbeiten
Sie manchmal zwei Jahre lang an einer Ak-
tion. Ein Politiker tritt morgens vor die Ka-
mera, formuliert ein paar scharfe, inhuma-
ne Slogans, und die dominieren dann den
ganzen Tag alle Medien. Was wir den poli -
tischen Diskurs nennen, ist eine beißende
chemische Brühe, an der Sie Kinder nie-
mals spielen lassen würden.
SPIEGEL:Ein Beispiel, bitte.
Ruch:Seehofers »Wir werden uns gegen
Zuwanderung in deutsche Sozialsysteme
wehren bis zur letzten Patrone«. Da ist
mir die vermeintliche Toxik durch Fantasie
tausendmal lieber. Solche Aussagen sind
darauf angelegt, wiederholt zu werden,
Skandale auszulösen, die Schwachen mit
Füßen zu treten.
SPIEGEL:Medien sollen solche Sätze un-
terschlagen?
Ruch:Wollen Medien wirklich über jedes
Stöckchen springen, das ihnen Politiker
hinhalten? Ich wollte das Buch ursprüng-
lich »Politiker raus« nennen. Die Aufgabe
eines Politikers ist es gerade nicht, bei
Anne Will im Fernsehstudio rumzusitzen.
Politiker gehören ins Parlament oder ins
Ministerium.
SPIEGEL:Aber mit ihren Auftritten in Talk-
shows tragen Politiker ihren Teil zur Mei-
nungsbildung bei.
Ruch:Politiker dominieren unsere politi-
schen Debatten. Aber viel Kluges haben
sie gar nicht zu sagen. Politiker raus, Intel-
lektuelle rein.
SPIEGEL:Welche Intellektuellen denn?

Kultur

»Mich interessiert


nur der Worst Case«


SPIEGEL-GesprächDer Berliner Aktionskünstler und Philosoph Philipp Ruch glaubt, dass die
Republik vor dem moralischen Zusammenbruch steht. Das Deutschland von heute,

schreibt er in seinem neuen Buch, erinnere ihn an das Deutschland von 1932. Im Ernst?


MUSTAFAH ABDULAZIZ / DER SPIEGEL
Aktivist Ruch
Eine gewisse Freude am Untergang
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