A
lle kennen Holly Golight-
ly, das New Yorker Party-
girl im kleinen Schwarzen
aus dem Film »Frühstück bei Tif-
fany«: Die unverfrorene Anmut
des Hollywoodstars Audrey
Hepburn gab ihr das ewige Zel-
luloidgesicht. Nicht viele kennen
Maeve Brennan, ihr vermut -
liches Vorbild – auch stets im
kleinen Schwarzen und mit
hochgestecktem Haar. Das allein
wäre schon ein Grund, ihre
Biografie zu lesen, die den spre-
chenden Titel trägt »Ich würde
so etwas nie ohne Lippenstift
lesen«*. Es gibt aber noch ein
paar mehr.
Denn die gebürtige Irin Maeve
Brennan war nicht nur eine
amerikanische Großstadtikone
der Sechziger und Siebziger und,
in ihren letzten Jahren, eine tra-
gische Heldin des Überlebens.
Vor allem war sie eine Autorin
von Rang. Eine Sammlung ihrer
Geschichten und Kolumnen für
den »New Yorker« erschien An-
fang des Jahres in einer bemer-
kenswert schönen und sorgfältig
edierten Übersetzung, und ob
man sie davor, danach oder zu
ihrer Biografie liest – Brennan ist eine
Entdeckung**.
Im jugendlichen Alter war Brennan, ihr
Vater war der irische Gesandte in Washing-
ton, 1934 von Irland in die USA überge-
siedelt. Mit den Verhältnissen in ihrer
Heimat hatte die Erziehung zur Weiblich-
keit hier wenig gemein. Maeve und ihre
Schwestern, alle drei streng patriotisch
nach keltischen, sagenumwogenen Köni-
ginnen benannt, lernten auf der katho -
lischen Highschool nicht nur literarisches
Schreiben und Naturwissenschaften, son-
dern nebenher auch Bridge und finanzielle
Unabhängigkeit sowie den Umgang mit
Lippenstift und Empfängnisverhütung.
- Michaela Karl: »›Ich würde so etwas nie ohne Lippen -
stift lesen‹«. Hoffmann und Campe; 352 Seiten; 22 Euro.
** Maeve Brennan: »Sämtliche Erzählungen«. Aus dem
Englischen von Hans-Christian Oeser. Steidl; 1168 Sei-
ten; 45 Euro.
Später dann, im »New Yorker«, betrieb
Brennan mit melancholischem Witz eine
Art Mikrosoziologie. Sie schrieb darüber,
wie es sich in der Höhe wohnt, wo das Em-
pire State Building aussieht, »als wollte es
mit jedem anderen Gebäude der Stadt Ell-
bogenkontakt haben«, sie protokollierte
die Ausrufer von Sonderangeboten (»He,
Marilyn Monroe ist reduziert worden!«)
und die Stimmung in den Straßen Manhat-
tans morgens um sechs, wenn die Frühauf-
steher den wankenden Partyheimkehrern
begegneten.
Wie viele ihrer Kollegen wohnte sie
meist in Hotels; ihr eigentliches Zuhause
war die Redaktion, wo man den exzentri-
schen Launen der Bewohner mit Nach-
sicht und Takt begegnete. Es war nicht nur
selbstverständlich, dass der Verlag für die
Steuerschulden und unbezahlten Rechnun-
gen der Mitarbeiter aufkam. In ihren spä-
teren Jahren verließ die Katzenliebhaberin
Brennan auch mal eine gemietete Woh-
nung ohne die Tiere, deren Verwüstungs-
arbeit auf Kosten des »New Yorker« be-
seitigt wurde.
Brennan veröffentlichte neben ihrer
urbanen Kolumne auch Erzählungen.
Die »Dubliner Geschichten«, die Doppel-
biografie zweier bürgerlicher Ehepaare,
lesen sich heute als ein gelungenes litera-
risches Experiment. Die gegenseitige Spie-
gelung, in der sich Menschen im Zusam-
menleben verheddern, das Ehegedächtnis
als Zuflucht und Gefängnis sind selten so
nuanciert und einfühlsam beschrieben
worden.
Sie selbst allerdings lebte nach der Schei-
dung von dem Journalisten St. Clair
McKelway bis zu ihrem Tod allein. Gute
weitere zehn Jahre war sie äußerst pro-
duktiv; als sie in ihren späten Fünfzigern
war, häuften sich die Erschöpfungsphasen.
Therapien und Medikamente halfen nur
vorübergehend; nicht allein bei ihr, auch
im Freundeskreis gab es Nervenzusam-
menbrüche und Anzeichen körperlicher
Zerrüttung – schließlich waren
Jogging und rauchfreie Zonen
noch Jahrzehnte entfernt.
In einer Kolumne erzählte
Brennan von einer alten Frau im
Hotel, die den Empfangschef um
Beistand bittet, weil sie sich
bedroht und verängstigt fühlt,
und die dann bemerkt, dass sie
lästig wird. »Es ist ein Fehler, den
sie bisher vermieden hat. Dies
ist ihr letztes Gefecht im Land
der Lebenden, und sie wird
hier nur geduldet.« Ein Gast
wie sie darf sich nicht beschwe-
ren. »Wenn man alt und arm ist
und das Zimmermädchen gegen
sich aufbringt, ist man aufge-
schmissen.«
Psychische Krisen, möglicher-
weise eine Schizophrenie mach-
ten Brennan zu schaffen; schließ-
lich schrieb sie nicht mehr und
bekam wegen Vandalismus sogar
Hausverbot, bezog aber noch für
viele Jahre ein Gehalt. Ihre letzte
Kolumne erschien 1981; sie starb
knapp zwölf Jahre später, mit
76 Jahren, in einem Pflegeheim
in Queens.
Ihre Biografin Michaela Karl
dokumentiert einen Brief, den
Brennan als Antwort auf eine Le-
seranfrage verfasste, warum man so lange
nichts von ihr zu lesen bekomme: »Lieber
Mr. Boyce, mit größtem Bedauern muss
ich Ihnen mitteilen, dass unsere arme
Miss Brennan verstorben ist. Wir haben
ihren Kopf hier bei uns im Büro, oben auf
der Treppe, wo man sie immer antreffen
konnte und wo sie mit einem breiten Lä-
cheln Wasser aus ihrem Pappbecher trank.
Sie hat sich am Fastnachtsdienstag am
Fuße des Hauptaltars der St. Patrick’s Ca-
thedral mithilfe eines kleinen Handspie-
gels in den Rücken geschossen.«
Das Schreiben wurde nie abgeschickt;
heute liest es sich als ein mokanter Gruß
an die Literaturgeschichte, in der seiner
Autorin ein würdiger Platz gebührt – in
der Nähe von Dorothy Parker, Mascha Ka-
léko und Jane Bowles und unweit von
Hausbar und Kamin. Elke Schmitter
116 DER SPIEGEL Nr. 35 / 24. 8. 2019
Kultur
Nie ohne
Lippenstift
LiteraturDie Wiederentdeckung
der New Yorkerin Maeve
Brennan, Stilikone ihrer Zeit und
moderne Überlebenskünstlerin
NINA LEEN / THE LIFE PICTURE COLLECTION / GETTY IMAGES
Autorin Brennan 1945
»Mithilfe eines kleinen Handspiegels«