Der Spiegel - 24. August 2019

(WallPaper) #1

S


achsen im Sommer 2019. Vom
Freibad schweift der Blick über
die Hauptstraße in Heidenau zu
einer weiß-roten Industriehalle.
»Möbelwerk Heidenau« steht
auf einem Schild, am Metallzaun wirbt ein
Aufsteller für »Hippo’s Hüpfburgen«. Der
Parkplatz im Gewerbegebiet in der Säch-
sischen Schweiz ist mit Lkw-Aufliegern
vollgestellt, gegenüber liegt ein Super-
markt. Weit und breit ist an diesem Wo-
chenende kein Mensch zu sehen.
Vor vier Jahren war die Halle noch weiß-
blau gestrichen und stand im Mittelpunkt
öffentlicher Erregung. Drei Tage lang pro-
testierten im August 2015 Tausende De-
monstranten gegen die Entscheidung der
sächsischen Landesregierung, aus dem ehe-
maligen Praktiker-Baumarkt eine Notun-
terkunft für 600 Flüchtlinge zu machen.
Die NPD marschierte vorneweg, Steine,
Flaschen, Feuerwerkskörper flogen Rich-
tung Polizei. Die Bilder gingen um die Welt.
Der damalige Vizekanzler Sigmar Ga-
briel (SPD) kam in die Stadt, verurteilte
den »rechtsradikalen Mob« und das de-
monstrierende »Pack«. Kanzlerin Angela
Merkel (CDU) fuhr vor und wurde als »blö-
de Schlampe«, »Hure« und »Volksverräte-
rin« beschimpft. Die aufgewühlte Masse
skandierte trotzig: »Wir sind das Pack.«
In jenen Wochen protestierten Men-
schen in Tröglitz, in Freital, in Dresden, in
Heidenau. Am 4. September 2015 ent-
schied Merkel dann, dass die Grenzen of-
fen bleiben sollten. Hunderttausende wei-
tere Migranten kamen. Es war ein Sieg der
Menschlichkeit. Aber, so empfinden das
etliche Menschen im Osten, auch eine Ent-
scheidung gegen sie.
Der Heidenauer Baumarkt diente nicht
mal ein Jahr lang als Asylunterkunft. Das
angrenzende Möbelwerk kaufte die Im-
mobilie vom Freistaat, heute werden dort
Schlafzimmermöbel gebaut und in 50 Län-
der der Erde exportiert. 2015 wurden
70 000 Asylsuchende in Sachsen regis-
triert, vergangenes Jahr waren es lediglich
noch 8800.
Die Geschichte könnte hier zu Ende
sein. Aber sie ist nicht vorbei.
Bei der Kommunalwahl im Mai verlor
die Heidenauer CDU 20 Prozentpunkte,
die fremdenfeindliche AfD wurde mit
29,5 Prozent stärkste Kraft. Die Partei hat-
te nicht einmal genug Kandidaten auf -
gestellt, um die sieben Sitze im Stadtrat
besetzen zu können. Zwei blieben frei.
In Heidenau zeigt sich, dass die Ge-
schehnisse von 2015 nachwirken. Die AfD
lebt noch immer von der Flüchtlings -
debatte, in drei Bundesländern könnte sie
bald stärkste Kraft werden. Brandenburg
und Sachsen wählen am 1. September,
Thüringen folgt am 27. Oktober.
Eine aktuelle Emnid-Umfrage sieht die
AfD im ganzen Osten vorn; wäre jetzt Bun-


destagswahl, käme sie dort auf 24 Prozent.
Aber erst einmal sind Landtagswahlen.
Diese könnten das Land nachhaltig ver-
ändern – indem sie das Ende der Volks-
parteien CDU und SPD einläuten und den
Beginn von Landesregierungen ohne
Mehrheit im Parlament. In Brandenburg
und in Sachsen ging die AfD schon aus der
Europawahl als stärkste Kraft hervor.
Die jüngste Umfrage, vom Institut Infra-
test dimap, sieht die AfD in Brandenburg
mit 22 Prozent gleichauf mit der SPD, die
rot-rote Regierung dort verlöre ihre Mehr-
heit. Danach würde es noch für eine Koali-
tion aus SPD, Grünen und Linken reichen.
In Sachsen sieht das Institut die CDU mit
30 Prozent vorn. Die AfD liegt mit 24 Pro-
zent dahinter. Die dort regierende Koali -
tion aus CDU und SPD wird ihre Mehrheit
höchstwahrscheinlich verlieren. Um eine
Mehrheit gegen die AfD zu erlangen, müss-
ten womöglich gleich vier Parteien koalie-
ren: CDU, SPD, Grüne und Linke.
Der sächsische Ministerpräsident Mi-
chael Kretschmer beharrt darauf, nicht mit
den Linken regieren zu wollen. Eine Koali -
tion mit der AfD haben die im Parlament
vertretenen Parteien kategorisch ausge-
schlossen, in beiden Ländern. Daher
scheint in Sachsen eine Minderheitsregie-
rung nicht nur möglich, sondern wahr-
scheinlich. Es sei denn, die CDU würde
nach der Wahl all ihre Festlegungen über
Bord werfen und ihren Spitzenkandidaten
gleich mit.
Warum geben im Osten mehr Men-
schen der AfD ihre Stimme als im Westen?
Dieser Text versucht, aus dem Osten he-

14 DER SPIEGEL Nr. 35 / 24. 8. 2019


Titel

raus, den Menschen, vor allem im Westen,
ihre Landsleute zu erklären. Das heißt
nicht, für Ausländerfeindlichkeit und Ras-
sismus Verständnis zu zeigen, soll aber er-
gründen, warum die Furcht vor Einwan-
derern in einem großen Teil Deutschlands
die Politik bestimmt.
Nirgendwo sonst im Land fühlen sich
mehr Menschen von Flüchtlingen kulturell
bedroht als im Osten, sie fürchten sich vor
einer »Überfremdung« und auch vor Kon-
kurrenz auf dem Arbeitsmarkt und in den
Sozialsystemen. Nirgendwo wird Angela
Merkel derart verachtet wie in ihrer eige-
nen Heimat. Die Ursachen für diese Ein-
stellungen liegen tief, tiefer als nur in der
Unzufriedenheit mit einer politischen Ent-
scheidung.
Einerseits ist die deutsche Einheit eine
beispiellose Erfolgsgeschichte. Mehr als
zwei Billionen Euro flossen in das geschicht-
lich einmalige Projekt. 65 Prozent der Sum-
me waren Sozialleistungen, 300 Milliarden
investierte die Bundesrepublik in die ost-
deutsche Infrastruktur. In weiten Teilen
sind die verfallenen Städte tatsächlich auf-
geblüht, die holprigen Autobahnen geglät-
tet, haben sich die allgegenwärtigen Braun-
kohleschwaden verzogen.
Die Arbeitslosigkeit, über Jahrzehnte
die größte Sorge der Ostdeutschen, ist seit
Jahren stark rückläufig. Auf ihrem Zenit,
2005, lag sie in den neuen Ländern bei
20,6 Prozent. Im Moment sind es noch 7.
Aktuell beurteilen 53 Prozent der Ostdeut-
schen ihre eigene wirtschaftliche Lage
als positiv, es sind exakt so viele wie im
Westen.
Andererseits produzierte die rasante
Wiedervereinigung reihenweise Verlierer,
die in der neuen Welt nicht Schritt halten
konnten und an denen der Aufschwung
vorbeiging. Und sie schuf einen neuen,
fragilen Mittelstand, der seither beständig
fürchtet, seinen bescheidenen Wohlstand
wieder zu verlieren. Alles zusammen
führt zu einer Gemütslage im Osten, die
so gar nicht zu den nackten Erfolgszahlen
der Einheit passen will und die Ex-SPD-
Chef Matthias Platzeck gerade als »ungu-
te Grundstimmung« beschrieben hat. Die
Menschen hätten nach Finanz- und
Flüchtlingskrise das Gefühl, der Staat
habe nicht mehr alles im Griff, sagte der
brandenburgische Sozialdemokrat. Er
sieht die Demo kratie gar am »Rande ei-
ner Krise«. Diese Stimmung gibt es auch
im Westen, sie ist dort nur nicht so weit
verbreitet.
Als das Allensbach-Institut im Juli wis-
sen wollte, wie verschieden die Wirt-
schafts- und Lebensverhältnisse in Ost
und West sind, sagten 74 Prozent der Ost-
deutschen »groß« bis »sehr groß«, bei den
Westdeutschen waren es nur 43. Befragt
danach, wo die Zukunftschancen besser
seien, antworteten 69 Prozent »in West-

Sonntagsfrage
»Welche Partei würden Sie wählen,
wenn am kommenden Sonntag
Landtagswahl wäre?«
Brandenburg
nächste Wahl am


  1. September 2019
    18


23,

22 %


12,

55
1,

15


18,

22


31,

12


6,
AfD SPD CDU Linke Grüne FDP

30


AfD

9,

16


Linke

18,

55


FDP


3,

7


SPD


12,

24


CDU


39,

11


Grüne

5,

Sachsen
nächste Wahl am


  1. September 2019


Infratest dimap für die ARD vom 19. bis 21. August;
jeweils 1002 Befragte in Brandenburg bzw. Sachsen,
Schwankungsbreite zwischen 1,4 und 3,1 Prozentpunkten

Ergebnis der Land-
tagswahl 2014
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