Der Spiegel - 24. August 2019

(WallPaper) #1
anspruch von 500 Euro haben, ist umge-
ben von muslimischen Nachbarn und führt
ein Geschäft, das sich, wie er sagt, kaum
noch lohnt. Er ist der Gegenentwurf des
besorgten Bürgers, der in der Eisenbahn-
straße vor allem eine No-go-Area sieht.
Damm steht hinter seinem Tresen, um-
geben von Postpaketen, die er für die
Nachbarn annimmt. »Zu DDR-Zeiten gab
es hier zwei Fischläden, zwei Kinos, Ca-
fés«, sagt er. Mitte der Neunzigerjahre sei-
en die verschwunden. »So schlimm ist das
alles aber gar nicht, wie immer behauptet
wird«, findet er. Mit den meisten Migran-
ten komme er klar, nur die Türken regten
ihn auf. »Die wollen immer verhandeln,
aber das ist hier kein Basar.«
Bei der Europawahl hat er nach eige-
nem Bekunden die Grünen gewählt, die
in Leipzig stärkste Kraft wurden.
Es gibt weltoffene, tolerante, großstäd-
tische Milieus, die auch in den wenigen an-
deren Großstädten im Osten existieren.
Und es gibt die, die mit den Umbrüchen
ihren Frieden gemacht haben. Die sehen,
was besser geworden ist und was nicht,
und für sich das Beste daraus ziehen.
Eine solche Truppe kommt abends kurz
vor sieben Uhr am Fußballstadion in Bit-
terfeld zusammen. Liana Härthe, 44, Uwe
Holz, 57, Marco Höhne, 47, Katrin Schnei-
der, 49, und ihr Sohn Felix Schneider, 24.
Seit bald 20 Jahren trifft sich die Gruppe,
in unterschiedlichen Konstellationen, zwei-
mal die Woche und läuft eine Stunde an
der Goitzsche entlang. Ein Naturschutz-
gebiet, aus dem die Arbeiter einst Braun-
kohle förderten – und das zeigt, wie sehr
sich die Region verändert hat.
Die Läufer lieben die zurückgekehrte Na-
tur. Katrin Schneider arbeitet bei der Spar-
kasse Anhalt-Bitterfeld, sie habe alles mit-
erlebt, erzählt sie im Laufschritt. In den
Siebzigerjahren baggerte man ihr Dorf weg,
2002 stand ihr Haus beim Elbehochwasser

DER SPIEGEL Nr. 35 / 24. 8. 2019 21


Titel

1991


2018


Leistungsschwächer
Bruttoinlandsprodukt je Erwerbstätigen
in Prozent des Bundesdurchschnitts

nicht inflationsbereinigt
Quelle: Statistisches Bundesamt

Deutschland
insgesamt = 100

Ostdeutschland

Westdeutschland

Berlin

Ostdeutschland

Westdeutschland

Berlin

38,8


97,8

113,8

103,1

97,2

81,9


unter Wasser. Und doch kommt sie mit ih-
rem Leben heute gut zurecht. »Wir leben
nun mal hier, und uns gefällt es gut«, sagt
sie. Das meiste, was über Bitterfeld in den
Medien berichtet werde, verzerre das Bild.
Bitterfeld in Sachsen-Anhalt war zu
DDR-Zeiten als »dreckigste Stadt Euro -
pas« berüchtigt, aus den Schornsteinen
quollen Chemiewolken in allen Farben.
Die ganze Stadt litt unter dem giftigen Fall-
out. Nach der Wende gingen Tausende Ar-
beitsplätze verloren. Jahre später ver-
schwand der Dreck auch von den Hausfas-
saden und Straßen. »Das ist doch ein Para-
dies hier«, sagt Uwe Holz heute eupho-
risch, »könnte auch in Kanada oder so
sein.« Der gebürtige Schwabe ist Vorsit-
zender des Sportvereins Bitterfeld 2000
und Direktor des Kreismuseums der Stadt.
Hinter den Büschen tut sich auf 13 Qua-
dratkilometern ein gewaltiger See auf, der
Große Goitzschesee. Es gibt in Bitterfeld
eine Marina für Segelboote und eine Pro-
menade mit Cafés und Restaurants.
Doch die Innenstadt wirkt ausgestor-
ben, es sind kaum Menschen auf den Stra-
ßen, viele Geschäfte haben geschlossen.
Wohnten in der inzwischen fusionierten
Kommune Bitterfeld-Wolfen 1989 fast
80 000 Menschen, sind es heute nur noch
die Hälfte. Selbst der Kulturpalast soll ab-
gerissen werden. Im DDR-Vorzeigeplat-
tenbau Wolfen-Nord wohnten einst
35 000 Menschen. Zuletzt waren es weni-
ger als 7000. Ganze Straßenzüge werden
dem Erdboden gleichgemacht. Die Versor-
gung der verbliebenen Menschen bereitet
Mühe. Gerade beklagte die Kassenärztli-
che Vereinigung, dass elf Hausarztstellen
nicht besetzt werden könnten.
Katrin Schneider sagt, es gebe Menschen,
die frustriert seien von den Veränderungen,
Menschen, die bis heute nicht mit den De-
mütigungen und der Arbeitslosigkeit in den
Neunzigerjahren abgeschlossen hätten.
»Auch die Jugend hat kaum etwas hier heu-
te, keine Jugendklubs, keine Kinos.« Einige
sehnten sich zurück nach alten Zeiten. Bei
der Europawahl im Mai wählten im Land-
kreis Anhalt-Bitterfeld 22,6 Prozent der
Stimmberechtigten die AfD.
Museumsdirektor Holz sagt, er könne
sich diese Zahl auch nicht erklären. Er
glaubt, AfD-Wähler hier seien »mit ihrer
Gesamtsituation unzufrieden«, manche lit-
ten an Überforderung, andere hätten ein-
fach »noch keine Orientierung in unserem
kapitalistischen System gefunden«. Er
selbst kenne nur ein AfD-Mitglied persön-
lich, »es ist wie eine Parallelwelt«.
Nachdem Chemie und Kohle weitge-
hend aus Bitterfeld verschwunden waren,
versuchte die Stadt, neue Industrien anzu-
siedeln. Mit 40 Millionen Euro Fördermit-
teln kam die Solarfirma Q-Cells, doch we-
nige Jahre später war sie pleite und waren
die gut bezahlten Industriearbeitsplätze

nen Glück. Die Sorge davor sei in Ost-
deutschland »wegen der anhaltenden kol-
lektiven, strukturellen Benachteiligung der
Bevölkerung« stärker verbreitet als im
Westen. Es ist kein Zufall, dass auch die
osteuropäischen Staaten, die jahrelang
abgeschottet waren und nach dem Zusam-
menbruch des Ostblocks um das eigene
wirtschaftliche Überleben kämpfen muss-
ten, Migration mehrheitlich ablehnen.


Die Unzufriedenheit im Ostenist wohl
einer der Gründe für die stärkere Frem-
denfeindlichkeit dort. Es ist Aufgabe der
Politik und Zivilgesellschaft, darauf Ant-
worten zu finden. Vor allem aber müssen
die Menschen das Vertrauen zurückgewin-
nen, dass sich die Politik auch um ihre In-
teressen kümmert.
Das ist ein mühsamer Weg, weil Ängste
weit verbreitet sind und jeder, der sucht,
ein Beispiel dafür findet, dass sie berech-
tigt sind. Viele Ostdeutsche fürchten sich
vor »westdeutschen Zuständen«, auch
wenn sie die eher aus der »Bild«-Zeitung
kennen. Gemeint sind Gegenden mit ho-
hem Ausländeranteil und hoher Krimina-
lität: Berlin-Neukölln, Duisburg-Marxloh
oder Bremen-Gröpelingen. Manche fürch-
ten sich schon in Leipzig, der Stadt im Os-
ten, die blüht wie keine zweite.
Die Stadt ist der Senkrechtstarter unter
den Städten in den neuen Ländern. Einst
grau und am Tagebaurand gelegen, die
Gründerzeitfassaden verfallen, wuchs sie
seit 2010 um gut 15 Prozent. In Leipzig leben
jetzt fast 600 000 Menschen, mehr als in Es-
sen. Hier produzieren BMW und Porsche,
hier ist die Innenstadt ein Schmuckkästchen,
das Touristen aus aller Welt anlockt.
Die Eisenbahnstraße liegt auch in Leipzig,
sie befindet sich in einem der wenigen mi -
grantisch geprägten Viertel in Ostdeutsch-
land. Die 1,5 Kilometer lange Meile ähnelt
der Sonnenallee in Berlin-Neukölln. Auch
hier gibt es Restaurants für Falafel und
Döner, Shishabars, Spielotheken, Dealer,
Frauen mit Kopftüchern. 2017 registrierte
die Polizei im Viertel 2311 Straftaten. Dro-
genhändler wickeln ihre Geschäfte ab, Pas-
santen werden beraubt. Seit November ist
um die Straße eine Waffenverbotszone er-
richtet worden.
Zwischen den türkischen Grills und Ge-
müseläden eröffneten zuletzt Start-up-Bü-
ros und teure Friseursalons. Der 64-jährige
Lutz Damm verkauft in der Eisenbahnstra-
ße seit 36 Jahren Wandfarbe und Tapeten,
auch in der DDR war das möglich. Er hat
hier alle Wandlungen erlebt und ist geblie-
ben. Die Neuankömmlinge machen ihm
keine Angst.
Damm hat sich damals unter der SED-
Herrschaft arrangiert, und er tut es auch
heute. Rechtes Gedankengut und Frem-
denfeindlichkeit liegen ihm fern. Er wird
nach eigener Angabe einen Renten -

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