wieder verschwunden. Im Chemiepark
Bitterfeld-Wolfen arbeiten heute noch
11 000 Menschen, die Arbeitslosenquote
liegt bei sieben Prozent.
Wer in Bitterfeld nach frustrierten Ar-
beitslosen sucht, findet sie. Auch Rassisten
gibt es in der Stadt und Menschen, die sich
die DDR zurückwünschen. Es sind so viele,
dass sich die Gesellschaft nicht mit ihnen ab-
finden sollte. In der Mehrheit aber sind sie
nicht. In der Mehrheit leben in Bitterfeld
Menschen, die in etwa so sind wie die Lauf-
gruppe des BSV 2000, Menschen, für die
Bitterfeld ihre Heimat ist, die sich hier ver-
wurzelt fühlen wie Katrin Schneider, die
sagt: »Ich fahre gern in den Urlaub, aber ich
freue mich jedes Mal, wenn ich wieder in
Bitterfeld bin.« Auf der Laufstrecke riecht
die Luft frisch, die Abendsonne strahlt zwi-
schen dem Geäst, man hört die Vögel zwit-
schern. Die Läufer erzählen von jungen Fa-
milien, die zurückgekommen sind. Wegen
der Natur, der niedrigen Mieten, der Kitas.
Man müsse sich damit abfinden, dass die
Stadt kleiner werde. »Bitterfeld hat sich
eben verändert«, sagt Uwe Holz.
Der ganze Ostenhat sich verändert in den
vergangenen 30 Jahren. Die einen haben
die Veränderungen bewältigt, die anderen
nicht. Die einen konnten den Wandel als
Chance für ein neues Leben nutzen, die
anderen versuchen das bis heute. Es sind
Verletzungen zurückgeblieben, die einfach
nicht heilen.
Soziologe Kollmorgen rät trotzdem zur
Gelassenheit, es sei doch gut, wenn Proble-
me nun angesprochen würden. Gut
50 Prozent der Ostdeutschen seien mit dem
Funktionieren der Demokratie in Deutsch-
land unzufrieden. Früher hätten viele von
ihnen die PDS/Linke gewählt. Heute samm-
le die AfD diese Enttäuschten ein. Es sei
wichtig, dass es diese Partei gebe. »Durch
sie haben die Menschen mit ihren spezifi-
schen Problemen eine Stimme.« Und De-
mokratie müsse wehtun, sonst funktioniere
sie nur für die herrschenden Eliten.
Im September und Oktober werden ver-
mutlich viele frühere Nichtwähler zur Wahl
gehen. Etliche von ihnen werden AfD wäh-
len, aber die Partei muss nicht der Gewin-
ner bleiben. Der Wunsch nach Anerken-
nung könnte die anderen Parteien motivie-
ren, ihre potenziellen Wähler zwischen
Prenzlau und Leipzig, Spremberg und Bit-
terfeld trotz all ihrer Ängste und Neurosen
ernst zu nehmen. Oder gerade deswegen.
Mitarbeit: Timo Lehmann, Carolina Torres
Mail: [email protected]
A
ndreas Kalbitz spult sein ak -
tuelles Programm ab. Er spricht
von »Kopftuchgeschwadern mit
Mehrfachkinderwagen«, von »so -
genannten Flüchtlingen« und »Gender -
gaga«. Es ist der Donnerstag vor drei
Wochen, der Spitzenkandidat der branden-
burgischen AfD steht im Sport- und Frei-
zeitzentrum Mixdorf. »Stammtisch« heißt
die Veranstaltung: knapp 50 Zuhörer, die
meisten männlich, eher alt, ihre Fragen
harmlos. Ein Heimspiel für Kalbitz.
Dann noch eine Warnung an die Zuhö-
rer: »Ich verspreche Ihnen eins, die nächs-
ten vier Wochen werden schmutzig.« Die
Medien würden vor der Wahl Kampagnen
gegen die AfD fahren, behauptet Kalbitz,
die »Nazikeule« schwingen. »Wenn sie
nichts finden, erfinden sie was.«
Nach der Veranstaltung steht Kalbitz
auf der Terrasse. Ein Mann gesellt sich zu
ihm, schüttelt seine freie Hand, in der an-
deren hält Kalbitz eine Weinschorle: »Halt
den Kopf hoch!«, sagt der Mann. Es sei
wirklich schlimm, dass die Medien in
Kalbitz’ Vergangenheit wühlten. Aber die
Wähler glaubten das eh nicht.
Kalbitz nickt und steckt sich eine Ziga-
rette an. Das sei ja alles »alter Kram«, sagt
er. »Ich kann darüber nur lachen.« Er lacht
nicht. »Ich stehe zu meiner Vergangenheit,
das ist Teil meiner Biografie. Ich kann
mich ja nicht von mir selbst distanzieren.«
Es ist ein Satz, den Kalbitz schon häufiger
sagen musste.
Andreas Kalbitz, 46, ehemaliger Fall-
schirmjäger, ist seit wenigen Wochen nach
der Gründung bei der AfD, Mitgliedsnum-
mer 573.
Offiziell ist er Landesvorsitzender und
Fraktionschef in Brandenburg, wo seine
AfD bei den Landtagswahlen kommende
Woche stärkste Kraft werden könnte.
Inoffiziell ist er neben Parteichef Ale-
xander Gauland der mächtigste Politiker
der AfD. Er ist es, der im völkischen »Flü-
gel« den Ton angibt, jener parteiinternen
Plattform, die vom Verfassungsschutz als
Verdachtsfall geführt wird. Björn Höcke
ist das deutschlandweit bekannte Aushän-
geschild, hinter ihm zieht Kalbitz die Strip-
pen. Niemand in der Partei sei so gut ver-
netzt wie er, behaupten seine Kollegen.
Im Vergleich zu anderen AfD-Spitzen-
politikern ist Kalbitz kaum bekannt, doch
sein Einfluss auf die Politik der AfD ist
nicht zu unterschätzen. Was sagt das über
eine Partei, die sich gern bürgerlich nennt,
wenn einer wie er dort dominiert? Ein
Mann mit einer rechtsextremen Biografie,
mit rabiaten Methoden?
Kalbitz ist geschickt. Er weiß sich zu
verkaufen, hat fast immer ein süffisantes
Lächeln auf den Lippen, kann kritische
Fragen gut umschiffen. Mit Journalisten
redet er gern über seine Frau, die drei Kin-
der, zwei Hunde und drei Katzen. Fragt
man ihn zu seiner Vergangenheit, ist er in
wenigen Sätzen bei den Büchern, die er
abends zur Entspannung lese, vor allem
französische Belletristik. Oder Simon Se-
bag Montefiores »Der junge Stalin«.
Dabei könnte man lange mit Kalbitz,
der seit 16 Jahren in Brandenburg lebt,
über seine Vergangenheit am rechten Rand
sprechen. Es hat sich einiges angesammelt,
seit er, aufgewachsen in München, bei der
Pennalen Burschenschaft Saxonia-Czerno-
witz war, einer schlagenden Schülerver-
bindung, die sich im Haus der rechtsextre-
men Burschenschaft Danubia trifft.
Ab 1993 war er mindestens ein Jahr lang
Mitglied der rechtsextremen Republikaner,
als sie bereits vom Verfassungsschutz be-
obachtet wurden.
Im selben Jahr war er auch Mitglied im
rechtsextremen Witikobund, schrieb Texte
im »Witikobrief«. Darin lobte er das eben-
falls vom Verfassungsschutz beobachtete
Freundschafts- und Hilfswerk Ost. Im Jahr
darauf ging er als Soldat auf Zeit zur Bun-
deswehr, Feldwebellaufbahn.
Im Thule-Netz, über das Mitte der
Neunziger Rechtsextreme kommunizier-
ten, beschreibt jemand, wie er bei einem
»Grillfest nach buendischer Art« den »jun-
gen Kameraden« Kalbitz kennengelernt
habe: ein »sportlicher, intelligenter, gebil-
deter und sehr engagierter« Mann, sicher
kein »Weichei«.
2003 schrieb Kalbitz für die Zeitschrift
»Fritz« der rechtsextremen Jungen Lands-
mannschaft Ostpreußen zwei Texte.
Gemeinsam mit seinem Schwiegervater
arbeitete Kalbitz an zwei Drehbüchern,
die Filme wurden 2004 und 2008 ver -
22 DER SPIEGEL Nr. 35 / 24. 8. 2019
Titel
Videoreportage
Roadtrip durch
den Osten
spiegel.de/sp352019osten
oder in der App DER SPIEGEL
Der Machthaber
AfDAndreas Kalbitz aus Brandenburg ist neben
Parteichef Gauland der mächtigste Mann in der Partei.
Er ist autoritär, bestens vernetzt und pflegt
Kontakte zu Rechtsextremen. Von Ann-Katrin Müller