Der Spiegel - 24. August 2019

(WallPaper) #1

J


eder Tag im Leben der zweijährigen
Finja folgt einem immer gleichen Ab-
lauf:
7.30 Uhr: Vitamin-D-Präparat einneh-
men, um den Knochenaufbau zu stärken.
8 Uhr: waschen, Natriumchlorid inha-
lieren, Filter am Beatmungsgerät tauschen,
den Sensor am Fuß wechseln, der die Sauer -
stoffsättigung im Blut und die Herz -
frequenz misst.
9 Uhr: 250 Milliliter püriertes Frühstück
aufnehmen, per Plastikschlauch direkt in
den Magen.


So steht es auf dem Plan, der neben dem
Kinderbett hängt und das Leben der Fa-
milie Büttner bestimmt, Tag für Tag, rund
um die Uhr.
Finja braucht diese Struktur, um zu
überleben. Sie wurde mit spinaler Muskel-
atrophie Typ 1 geboren, einer seltenen Er-
krankung der Nervenzellen im Rücken-
mark, die zum Muskelschwund führt. Das
Mädchen kann nicht allein schlucken, sit-
zen, laufen. Die Atmung muss immer,
24 Stunden am Tag, überwacht werden.
Das ist ohne Pflegepersonal nicht zu be-

wältigen – und das wird für Familie Bütt-
ner zu einem immer größeren Problem.
In Deutschland herrscht Pflegenotstand.
Was das konkret heißt, zeigt sich in der
häuslichen Intensivpflege noch stärker als
in anderen Bereichen. An Menschen wie
Finja, die vermutlich zeit ihres Lebens auf
Hilfe angewiesen sein werden.
Das Mädchen ist kognitiv gesund, aber
körperlich beeinträchtigt. Die Beine sind
auffällig dünn, und der Kopf ist leicht ver-
formt, weil Finja lange eine Beatmungs-
maske tragen musste.
Zwei Monate nach ihrer Geburt erhiel-
ten ihre Eltern die Diagnose. Die Kranken-
kasse bewilligte Unterstützung durch ei-
nen Krankenpfleger für 22 Stunden am
Tag, sodass Finja zu Hause leben kann.
Die Kassen zahlen für Beatmungspatien-
ten oft rund 20 000 Euro im Monat. Doch
das heißt noch lange nicht, dass sich ge -
nügend Fachkräfte finden.
Die Arbeitsbedingungen in Kranken-
häusern oder anderen stationären Einrich-
tungen sind oft besser als im ambulanten
Pflegedienst. Eine Fachkraft im Kranken-
haus verdient im Schnitt 36 Prozent mehr,
wie aus einer parlamentarischen Anfrage
der Linken-Bundestagsfraktion im Jahr
2018 hervorgeht. Und dieser Unterschied
könnte sich vergrößern.
Das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz,
An fang des Jahres in Kraft getreten, soll
den Pflegenotstand bekämpfen und die
Arbeit in Kliniken und Pflegeeinrichtun-
gen attraktiver machen, etwa indem Weg-
zeiten höher honoriert oder die Vereinbar-
keit von Beruf und Familie erleichtert wer-
den. Die Beschäftigten der ambulanten
Pflegedienste gehen weitgehend leer aus.
»Der Konkurrenzkampf um Kranken-
pfleger könnte sich verschärfen«, sagt
Achim Schmid vom Forschungszentrum
Ungleichheit und Sozialpolitik in Bremen.
Stephan Röger, Sprecher der Diakonie,
eines der größten Anbieter ambulanter
Pflege in Deutschland, formuliert es so:
»Die Krankenhäuser sind bei der Gewin-
nung von Pflegekräften im Vorteil und in
der Pflicht. Es ist realistisch, dass sie sehr
an spezialisierten Pflegekräften aus der
ambulanten Intensivpflege interessiert
sind und sie abwerben.«
Dann kommt es vermutlich noch mehr
auf die Angehörigen an, auf Menschen wie
Christiane Büttner, die Mutter von Finja.
Weil sich nicht genügend Pflegekräfte fin-
den und mehrere Schichten pro Woche un-
besetzt bleiben, springt die Mutter schon
jetzt regelmäßig ein. Sie hat längst gelernt,
Filter zu wechseln, Sekrete abzusaugen
oder Monitore zu überwachen.
Die 34-Jährige wirkt müde, wenn sie
davon erzählt. An einem sonnigen Tag im
Juli sitzt die Physiotherapeutin auf ihrer
Terrasse in Frankenheim, 140 Kilometer
südlich von Kassel, und sieht ihren beiden

44 DER SPIEGEL Nr. 35 / 24. 8. 2019


Deutschland

NORA KLEIN / DER SPIEGEL
Patientin Finja
Kann nicht allein schlucken, sitzen, laufen

Rund um die Uhr


GesundheitFinja ist schwer krank und braucht Hilfe. Doch Fachkräfte
sind schwierig zu finden – gerade für die Pflege zu Hause.
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