Der Spiegel - 24. August 2019

(WallPaper) #1

A


n einem Sonntagnachmittag im
August 2018 hatte Stephanie
Moore die Gelegenheit, dem
Bundesgesundheitsminister die
Meinung zu sagen. Was die Hausärztin
von Jens Spahn hält, kann sie sehr kurz
zusammenfassen: »Nichts.«
Es war kurz nach 17 Uhr, als die beiden
aufeinanderstießen. Die Bundesregierung
hatte zum Tag der offenen Tür in Berlin
geladen, und Jens Spahn nahm auf einem
Podium Platz, um sich den Fragen der Bür-
ger zu stellen. Kurz bevor sich die Pforten
schlossen, schlüpfte Stephanie Moore auf
einen Sitz in Reihe acht. Sie war spät dran,
zu Hause in Kreuzberg hatte sie noch eine
80-Jährige mit Hexenschuss versorgt.
Es dauerte eine Dreiviertelstunde, bis
die Hausärztin ein Mikrofon zu sich zog.
Ihre Stimme bebte, weil sie sich mühte,
ihre Empörung über einen Plan des CDU-
Politikers in eine Frage zu pressen. Sie ar-
beite 60 Stunden in der Woche, sagte sie,
manchmal sogar 70. Wie Jens Spahn sich
das gedacht habe, dass Ärzte künftig mehr
Sprechstunden anbieten sollten – und zu-
gleich Facharzttermine für ihre Patienten
organisieren. Ob die Politik ihr etwa eine
Sekretärin zur Seite stellen wolle, fragte
sie. »Woher soll ich die fünf Stunden für
die Mehrarbeit nehmen?«
Der Minister antwortete pampig. Nie-
mand sei »gezwungen, Kassenarzt zu wer-
den«, sagte er, und im überfüllten Saal reg-
ten sich Empörung und Gelächter. »Das
meine ich so«, rief Spahn hinterher, und
Stephanie Moore hielt es kaum auf ihrem
Sitz. »An diesem Tag«, sagt sie heute, »bin
ich zur Politaktivistin geworden.«
Spahn erntete damals einen Shitstorm
im Netz. Aber er fand, er habe nichts zu-
rückzunehmen. Das umstrittene Gesetz
brachte er auf den Weg – und kaum ein
Vorhaben sorgt bei Ärzten und Kassen-
funktionären für so viel Aufregung wie das
Werk mit dem sperrigen Namen »Termin-
service- und Versorgungsgesetz« (TSVG).
Seit Mai sind die ersten Teile in Kraft,
die nächsten Schritte der Reform folgen
Anfang September. Im Kern will die Große
Koalition dafür sorgen, dass gesetzlich
Versicherte schneller beim Arzt vorgelas-
sen werden. Mediziner, die über eine Kas-
senzulassung verfügen, nimmt Spahn in
die Pflicht: Sie müssen jetzt mindestens
25 Stunden Sprechzeiten anbieten (statt
bislang 20), Zeit für neue Patienten im


Kalender freihalten und im Zweifel auch
selbst zum Telefon greifen, um für dringen -
de Fälle eine Untersuchung bei Facharzt-
kollegen zu organisieren. Im Gegenzug
lockt die Koalition mit Geld.
Man könnte auch sagen: Das TSVG ist
der kleine Rest dessen, was von der gro-
ßen Debatte um die Zwei-Klassen-Medi-
zin geblieben ist. Über Jahre hatte sich
die Republik über das viel beschworene
Gerechtigkeitsdefizit im deutschen Ge-
sundheitssystem empört: Rund 90 Pro-
zent aller Bürger sind bei gesetzlichen
Kassen wie AOK, Barmer und Co. versi-
chert. Gut 10 Prozent jedoch entziehen
sich dem gesetzlichen Solidarmodell und
haben eine private Police abgeschlossen,
weil sie genug verdienen, Beamte oder
Selbstständige sind.
Ob sie tatsächlich besser versorgt oder
von Ärzten als lukrative Umsatzbringer
missbraucht werden, ist unter Experten
umstritten. Allerdings genießen die Privat-
patienten einen nachweisbaren Vorteil:
den schnelleren Zugang zum Arzt.

Viele Versicherte halten die Terminver-
gabe für ein Ärgernis. Jeder dritte Kassen-
patient wartet heute mehr als drei Wochen
auf einen Termin beim Spezialisten, wie
eine Befragung zeigt, die das Forsa-Institut
in diesem Frühjahr für die Kassenärztliche
Bundesvereinigung (KBV) durchgeführt
hat. Bei den Privatpatienten sind es gerade
einmal 18 Prozent.
Diese Ungleichbehandlung nährt eine
grundsätzliche Debatte: Seit Jahren for-
dert die SPD, das Nebeneinander von pri-
vaten und gesetzlichen Kassen zu beenden
und eine Bürgerversicherung für alle ein-
zuführen. Die Union hält dagegen am Dua-
lismus fest, der im internationalen Ver-
gleich ohne Beispiel ist. In den Koalitions-
verhandlungen konnten sich die Parteien
nur auf den kleinsten gemeinsamen Nen-
ner einigen: darauf, das lästige Wartezei-
tenproblem auszumerzen.
»Der Umstand, dass der privat versicher-
te Nachbar nächste Woche einen Termin
beim Facharzt hat, der gesetzlich Ver -
sicherte aber erst in zwei, drei oder vier
Monaten, ist ein sehr konkretes Aufreger-
thema«, sagte Spahn, als der Bundestag
das Gesetz im Frühjahr verabschiedete.
Das ist aber nur die halbe Wahrheit.
Um ein Lieblingsprojekt von Spahn han-
delte es sich bei der Wartezeitenregelung
nie, eher ging es darum, die Bürgerversi-
cherung zu verhindern. Und so veredelte
der CDU-Politiker das von der SPD gefor-
derte Gesetz in seinem Sinne, indem er
den Medizinern zusätzliche Honorare ver-
sprach, wenn sie neue Patienten empfan-
gen. Am Ende schmolz die große System-
frage zu viel Klein-Klein auf 46 Seiten im
Bundesgesetzblatt zusammen. Und auch
wenn wesentliche Teile noch nicht in Kraft
sind, so lässt sich absehen, dass das Vor-
haben weniges besser, aber vieles teurer
machen dürfte. Nach Berechnungen der
Krankenkassen spülen die höheren Hono-
rare bis Ende 2022 rund 2,4 Milliarden
Euro in die Taschen der Ärzte.
An einem Augusttag, ein Jahr nach ih-
rem Zusammenstoß mit Jens Spahn, sitzt
Stephanie Moore am Schreibtisch ihrer
Praxis in einem Kreuzberger Hinterhof-
haus. Sie trägt ein Ringelkleid. Weiße Kit-
tel lehnt sie ab, aus Prinzip. »Ich will ja
niemanden uniformiert erschrecken«, sagt
sie. »Ich sehe mich nicht als Gott in Weiß.
Meine Patienten sollen sich wohlfühlen.«
Links neben ihr liegen die Laborbögen des

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Wirtschaft

Warte noch ein Weilchen


GesundheitKassenpatienten müssen oft lange ausharren, um Arzttermine zu bekommen. Minister


Jens Spahn will das per Gesetz ändern. In der Praxis dürfte es noch schlimmer werden.


18 5 73


Frauenarzt

20 10 63


Hautarzt

Geduld gefragt
Umfrage* zu Wartezeiten für einen Arzttermin,
Angaben in Prozent

keine Wartezeit /
ohne Termin

bis
3 Tage

mehr als
3 Tage
Hausarzt
58 19 21

31 22 46


HNO-Arzt

32 11 54


Chirurg

30 5 59


Urologe

24 13 62


Internist

21 14 64


Orthopäde

23 8 68


Psychiater

*Versichertenbefragung der KBV im März/April 2019;
an 100 fehlende Prozent: »Keine Angabe«
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