Der Spiegel - 24. August 2019

(WallPaper) #1

8 DER SPIEGEL Nr. 35 / 24. 8. 2019


Meinung


Wenn am nächsten Wahl-
sonntag die blauen Balken
der AfD in Sachsen und
Brandenburg nach oben
schießen sollten, werden
sich wohl manche wieder
fragen, wie es dazu kommen
konnte. Was macht man bloß dagegen?
Was hätte die Politik tun können, oder
sonstwer?
Bei der Frage, warum Menschen
rechts wählen, egal wo, sind geneti-
sche Ursachen ausgeschlossen. Ein
Nazi -Gen hat die Forschung bislang
nicht gefunden, auch bei Sachsen
nicht. Historische und soziologische
Erklärungsansätze gibt es natürlich
viele. Zu wenig Beachtung scheint mir
die Einsamkeit des Menschen zu
erhalten. Das marternde Gefühl, allein
zu sein.
Einsamkeit ist eine große, bislang
unterschätzte Plage der Moderne. Ein-
samkeit schädigt Körper wie Seele. Sie
ist ein Faktor bei der Entstehung von
Demenz oder Herz-Kreislauf-Erkran-
kungen und mindestens so gesund-
heitsschädigend wie zehn Zigaretten
am Tag. Wer sich einsam fühlt, hat ein
70 Prozent erhöhtes Risiko, an Depres-
sion zu erkranken. Es ist kein Wunder,
dass sich Einsamkeit in der Amygdala

bildlich nachweisen lässt, jener
Hirn region, die an Schmerzverarbei-
tung beteiligt ist.
Von den politischen Parteien hat,
mal ganz nüchtern betrachtet, die AfD
das attraktivste Angebot an Einsame.
Gerade auf dem Land, wo soziale
Strukturen zerfallen, ist sie als Kümme-
rer und Ansprechpartner präsent. Dort
erzielt sie auch die besten Wahlergeb-
nisse. Hinzu kommt: Wer einsam ist,
ist wohl empfänglicher für Parteien,
die durch die Betonung eines gemein-
samen Feindes (Flüchtlinge, Gutmen-
schen, Merkel, Systempresse) ein Wir-
gefühl stiften – und mit der Bekämp-
fung dieses Feindes einen Sinn.
Über die wütenden Gelbwesten in
Frankreich hieß es, dass das Gefühl,
allein zu sein, für viele ein Antrieb war.
In Großbritannien, wo zunehmend
rechts gewählt wird, hat man die
Gefahren durch Vereinzelung erkannt
und ein Einsamkeitsministerium
geschaffen. Vielleicht sollte man das
Problem langsam auch in Deutschland
mal ernst nehmen. Es gäbe viel zu
gewinnen: Menschen, die weniger ein-
sam sind – und weniger rechts.

An dieser Stelle schreiben Markus Feldenkirchen
und Alexander Neubacher im Wechsel.

Markus FeldenkirchenDer gesunde Menschenverstand

Fluch der Einsamkeit


So gesehen

Alles Immobilien


Weltgeschichte als
Grundstücksgeschäft

So unfair. Die Welt will nicht
begreifen, wie genial Donald
Trumps Ansinnen ist, Grönland zu
kaufen. Zentral im angesagten
Norden der Erdkugel ganz in der
Nähe der Hipster-Location Kanada
gelegen, verfügt das dänische Pro-
tektorat über eine Disco-Insel, lockt
mit einer der längsten Schluchten
der Welt und hält exotische Boden-
schätze bereit. Noch sind sie unter
einer kilometerdicken Eisschicht
verborgen, für einen Visionär vom
Schlage Trumps stellt diese jedoch
kein Hindernis dar, betreibt er
doch politisch bereits nach Kräften
deren Abschmelzung.

Hier liegt das eigentliche Poten -
zial dieses Liebhaberobjekts: Ist
die vom Vorbesitzer vernachlässigte
Vereisung endlich weg, entstehen
neue Bebauungsflächen. Zugleich
hebt das Schmelzwasser den Meeres-
spiegel global um über sieben Meter,
was weltweit zu einer Preissteige-
rung der oberen Etagen großzügiger
Apartmentanlagen führen dürfte –
eine absolute Win-win-Perspektive.
Umso unverständlicher die schnöde
Absage der Dänen, fehlt ihnen selbst
doch offensichtlich der Ehrgeiz, Grön-
land zu wahrer Größe zu entwickeln.
Auch belegt ihre Verweigerung histori-
sches Unverständnis, denn die Welt -
geschichte ist tatsächlich nicht mehr
als eine Abfolge von Immobiliendeals.
Seit der Völkerwanderung geht es
stets um die besten Wohnlagen und
attraktivsten Flächen. Bezahlt wird
freilich meist nicht mit Geld, sondern
mit Blut – da sollten die Dänen froh
sein über Trumps freundlichen Vor-
schlag. Er könnte auch anders.
Sogar für seine Kritiker bietet
Trumps Blick auf die Welt als Immo-
bilienmarkt Hoffnung: Sein Wohn-
recht im Weißen Haus ist befristet.
Stefan Kuzmany
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