Der Stern - 15. August 2019

(Barré) #1
Es ist immer wieder
erstaunlich, wie weit
sich Justin Vernon
alias Bon Iver
inzwischen von
seinen Anfängen
aus reduziertem, hymnischem Folk
entfernt hat. Seine elektronischen
Spielereien und Verfremdungen
erinnern eher an die Arbeitsweise von
Radiohead, sein Gesang an Peter
Gabriel. Am Ende stehen jedoch meist
große Popmomente. Angekündigt hat
er sein viertes Album, mit Gästen wie
James Blake und Bruce Hornsby und
dem selbstbewussten Titel „i,i“, als
Herbst-Platte. Auch wenn erst August
ist: Durch diese mannigfaltige Musik
werden wir sicher noch bis Weihnach-
ten schlendern. 22222

POP


Drei Männer mit
Bart und einer ohne:
das ist Die Höchste
Eisenbahn. Ihr
drittes Album heißt
„Ich glaub dir alles“
und klingt so, dass man 50 Minuten
lang abwechselnd „Hurra“ und „Oha“
rufen möchte. Die Sänger Moritz
Krämer und Francesco Wilking diskutie-
ren die Lage des Lebens und der Liebe,
der eine mit heller Stimme, der andere
mit verschwörerischer. In jedem Halb-
satz scheint eine Weisheit versteckt
oder ein Rätsel oder ein Blödsinn. Oder
ein sprechender Kater, der ein Fahrrad
schiebt, weil er es nicht fahren kann.
Dazu schaffen hüpfende, taumelnde
Melodien eine Atmosphäre irgendwo
zwischen Zaubershow, Marsmission
und Paartherapie. Hurra! 22222

POP


Ein paar verlorene
Akkorde, zunächst
leicht heiserer
Gesang – zaghaft
beginnt sie ihr erstes
Album. Es scheint,
als suche Angie McMahon noch den
Song, den sie gleich spielen will. In
ihrer Heimatstadt Melbourne hatte
sie erste musikalische Erfahrungen in
einer neunköpfigen Soulband gesam-
melt, anschließend zog sie sich zurück
in ihr Schlafzimmer und erarbeitete
das Material für „Salt“. Bei den
Aufnahmen in einer Scheune dann
gab sie – unterstützt von Bass und
Schlagzeug – jede Zurückhaltung auf.
Wohltuend hebt die Mittzwanzigerin
sich vom Heer der Singer/Songwriter
ab: Ihr bringt es hörbar Spaß, mit der
Gitarre Lärm zu machen. 22222

ROCK


Weiss ist nach den Aufnahmen für das jetzt
erscheinende, neunte Studioalbum wohl
endgültig ausgestiegen.
Doch das wird alles egal, sobald die Mu-
sik von „The Center Won’t Hold“ losgeht.
Besser: Sie hebt ab. Elf Songs in gerade mal
37 Minuten, einer besser als der andere. Und
während es in den Texten immer noch um
den weiblichen Körper geht, das Verzwei-
feln an gesellschaftlichen und politischen
Fehlentwicklungen, hat der Sound von
Sleater-Kinney inzwischen eine moderne
Pop-Sensibilität entwickelt, die wohl auch
von ihrer Produzentin rührt: Annie Clark,
berühmt unter ihrem Bühnennamen St.
Vincent. Weniger Gitarren, mehr Gesang
und andere Instrumente, darunter, huch,
sogar ein Klavier. Drei Frauen, die auch Ü 40
nicht leiser und ruhiger werden wollen.
Gut so, sehr gut. MatthiasSchmidt

M


an kann sich das heutzutage,
wenn Künstlerinnen wie Be-
yoncé, Billie Eilish oder Miley
Cyrus über den Pop-Olymp
herrschen, nur noch schwer
vorstellen. Doch Anfang der
90er Jahre war eine Gruppe aus wilden
Frauen, links und feministisch, bewaffnet
mit Punkrock und Zeilen über häusliche
Gewalt, Sexualität und Widerstand gegen
das Patriarchat, für viele: eine echte Provo-
kation. Bands trugen Namen wie Bikini Kill
oder Babes in Toyland, die Bewegung nann-
te sich Riot Grrrl – und in dem Grrrl steck-
te genauso viel Mädchen wie Groll.
Ein Vierteljahrhundert später gibt es die
Frauenquote, eine Kanzlerin und eine Ver-
teidigungsministerin, und das neue Werk
der Damen von Sleater-Kinney wird erst
mal schulterzuckend zur Kenntnis genom-
men. Die Band war zwischendurch acht
Jahre auf Eis gelegt, Sängerin Carrie
Brownstein wurde berühmt durch Auftrit-
te in TV-Serien wie „Portlandia“ und
„Transparent“, und Schlagzeugerin Janet

Sleater-Kinney sind wieder da. Und verpacken ihren
rockigen Feminismus diesmal in viel tollen Pop

Drei Farben: Frau


Janet Weiss, Carrie
Brownstein und
Corin Tucker (v. l.) sind
Sleater-Kinney

Sleater-Kinney: „The Center
Won’t Hold“ Grandiose Rückkehr der
Rock-Veteraninnen 22222

15.8.2019 109

MUSIK

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