Der Stern - 15. August 2019

(Barré) #1
Schon taucht vor mir ein Schlagloch
auf. Krampfhaft umfasse ich den Len-
ker. Eigentlich sollte ich jetzt mit
einem Handzeichen signalisieren,
dass ich nach rechts abbiegen will,
aber nur ein suizidal gestimmter
Mensch oder Evel Knievel höchstper-
sönlich würde den Lenker eines E-
Scooters loslassen.
Auf dem E-Roller bin ich langsamer
und instabiler als auf jedem Fahrrad. Und
mit dem Fahrrad konkurriere ich sekündlich
um den knapp bemessenen Platz auf den Rad-
wegen. Weg da, Klapprad-Omi! Ich habe hier gerade
einen wutschnaubenden Rennradfahrer im Nacken,
der ein Wettrennen gegen die Bestzeit in seiner Trai-
nings-App fährt. Hilft nix, wir drei irrlichtern jetzt als
gefährliches Wutknäuel zwischen 400 Meter langen
Wasserstoffbussen, einem digitalen Elektro-Rufbus
und einem selbstfahrenden Schneepflug oder was das
da vorn ist. Je mehr Tierarten in Deutschland ausster-
ben, desto reicher wird die Fauna auf unseren Straßen.

L


eider sind die Radwege in Deutschland im Jahr 2019
auf demselben Entwicklungsstand wie die Raum-
fahrt unter Arminius dem Cherusker (um 17 v. Chr.
bis 21 n. Chr.). Da drüben zum Beispiel, Schanzen-
straße, Westseite, verläuft der Radstreifen direkt auf
dem Bürgersteig, wo er wahrscheinlich noch von Armi-
niusʼ Ehegattin Thusnelda der Cheruskerin höchstper-
sönlich eingerichtet wurde. Thusnelda hat den Weg lei-
der sehr schlecht gepflastert. Sicher mit Findlingen aus
dem Limes. Mit dem Fahrrad alles kein Problem. Mit
den kleinen Rollerrädchen schon. Panisch wechsele ich
auf den Fußgängerbereich. Hier überfahre ich gleich
wahrscheinlich meine eigene Großmutter und all
meine Thronfolger. Pardon, ihr Lieben, aber ich bin die
Mobilitätsavantgarde, da müssen wir jetzt durch.
In besonders fortschrittlichen Stadtgebieten Germa-
niens hat Thusnelda die Cheruskerin den Radweg mit
einem breiten Farbstreifen auf der Fahrbahn markiert,
über den Autofahrer gern mit den rechten Reifen drü-
berfahren. Wahrscheinlich verschafft es ihnen Orien-
tierung in unserem unübersichtlichen Universum. Auf
solchen Wegen trennen mich etwa 0,025 Millimeter von
einem vorbeirauschenden Amphibienpanzer oder
einem schlingernden Schwertransporter, der gerade 700
weißrussische Schweine durch eine deutsche Innen-
stadt zum nächsten Schlachthof transportiert, wo sie
von einem weißrussischen Niedriglohnarbeiter fach-
gerecht erschossen werden.
Verständnisvolle Seelen würden nun sagen: Nun gebt
Thusnelda der Cheruskerin doch einfach noch ein we-
nig Zeit, ihr Wegesystem zu reformieren. Rom wurde ja
auch nicht an einem Tag erbaut.
Aber selbst nagelneue Fahrradwege sind leider nicht
viel besser als die frühgermanischen. Trotz vollmundig
angekündigter Verkehrswende bleibt die Straße über-
all Kriegsgebiet. Unsere technisch hoch entwickelte Zi-
vilisation kann zwar die Abgaswerte von Dieselmoto-

ren über Jahre hinweg fälschen, aber
einen sicheren Radweg bauen kann sie
leider nicht. Dabei guckt Robert Ha-
beck doch immer so positiv zukunfts-
freudig in die Talkrunden rein.
Bin ich zum Beispiel soeben noch
ganz entspannt durch das Hamburger
Studentenviertel gecruist, ganz ohne
irgendwelchen Theologie-Erstsemes-
tern irgendwelche komplizierten Kno-
chenbrüche zuzufügen, komme ich auch
schon bald an eine Kreuzung am Grindelberg,
die vor Kurzem rundum neu gestaltet und mit
Radwegen versehen wurde.
Die Fahrbahnmarkierungen dort sind allerdings
komplizierter als die Aufbauanleitung eines russischen
Atomkraftwerks. Hat man die Verkehrsführung end-
lich verstanden und den Moment der Verwirrung über-
lebt, findet man sich inmitten von orientierungslos
daherkreiselnden Schwertransportern wieder, die ex-
akt in diesem Moment an deutscher Verkehrspolitik irre
werden. Da gleitest du nun daher mit deiner fröhlichen
Handklingel, ding, ding. Schönes Leben noch, kleiner
Schmetterling.
Oder ich rausche gut gelaunt durch den Hamburger
Szenekiez Schanzenviertel und gleite weiter auf die
Weidenallee. Dort wurde eben erst ein Teilstück eines
ambitionierten Fahrradwegs fertiggestellt, die soge-
nannten Veloroute 2, jüngstes Prunkstück der Hambur-
ger Verkehrsplaner. Monatelang wurde gebuddelt, ge-
rüttelt und umgestaltet. Millionen wurden verbraten.
Ergebnis: ein herrlich breiter Gehweg, der nun mit Res-
tauranttischen zugestellt ist. Im öffentlichen Raum
wird am liebsten Gewerbesteuer abgeschöpft.
Egal, auf den Gehweg darf ich eh nicht. Ich muss auf die
Straße. Rechts und links der Fahrbahn sind opulente Park-
flächen, wo viele Autos stehen. Auf einer Straßenseite
allerdings immer noch quer zur Fahrbahn. Das ist nicht
sehr platzsparend. Folgerichtig ist die Fahrbahn nicht
viel breiter als vor den millionenteuren Umbauarbeiten.
Auf dem nagelneuen Asphalt hat nun Thusnelda die
Cheruskerin mit Wasserfarbe einen schmalen Radstrei-
fen markiert. Vielleicht auch mit Plakafarbe, wir wol-
len ihre gut gemeinte Anstrengung nicht ins Lächerli-
che ziehen. Bloß mit der viel beschworenen, dringend
notwendigen Verkehrswende haben ihre Mühen leider
nicht viel zu tun. Warum hat sie die Umbauarbeiten
nicht einfach dazu genutzt, mithilfe von Pollern oder
Blumenkübeln einen breiten Radstreifen, fernab von
fahrenden oder parkenden Autos, abzutrennen? Solche
sogenannten Protected Bike Lanes sorgen in den USA,
den Niederlanden oder Dänemark schon seit Jahren für
mehr Sicherheit.
Auf Thusneldas neuem Radweg parken schon früh-
morgens sehr gern Lieferanten, die dem Rad- oder
E-Scooterfahrer nun wahlweise ihre Tür, einen meter-
hohen Dönerkegel oder fünf Bierkisten ins selig lä-
chelnde Gesicht rammen.
Am sichersten und schönsten fährt man in deutschen
Städten immer noch in jahrhundertelang gewachsenem

Das Navigieren
zwischen Autos,
Fußgängern,
Lastern und
Renn- wie Trödel-
radlern kann
einem den
Angstschweiß
ins Gesicht
treiben. Zumal
die Radwege auf
demselben Ent-
wicklungsstand
sind wie die
Raumfahrt zu Zei-
ten von Arminius
dem Cherusker

46 15.8.2019
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