Der Stern - 15. August 2019

(Barré) #1
E

s sind Bilder wie im Krieg:
Von erhöhten Plätzen feu-
ern Polizisten Tränengas-
granaten in die Menge auf
der Nathan Road in Hong-
kongs Stadtzentrum. Es
dauert keine zwei Sekun-
den, bis Demonstranten die
Geschosse zurückwerfen. Wasser
und Gasmasken werden sofort an
die Frauen und Männer in vorders-
ter Linie gereicht – so als seien die
beiden Konfliktparteien zwei gut
geölte Maschinen. An anderer Stel-
le aber eskaliert die Gewalt. Polizis-
ten feuern aus nächster Nähe mit
Gummigeschossen. Eine junge Frau
wird im Auge getroffen und blutet.
Jubel bricht aus, als Vermummte
Brandsätze über den Zaun einer
Polizeistation werfen – ein Polizist
wird dabei verletzt. In Kwai Fong
schießen die Beamten sogar mit Trä-
nengas in eine U-Bahn-Station.
In den vergangenen zehn Wochen
gingen Hunderttausende Hongkon-
ger auf die Straße, legen immer wie-
der die Stadt lahm. Wie am vergange-
nen Montag, als unzählige Menschen
den internationalen Flughafen be-
setzten. Und jedes Wochenende
scheint die Gewalt zuzunehmen. An-
fangs stritt man gegen ein Ausliefe-
rungsgesetz, das es ermöglicht hätte,
Straftäter von Hongkong nach Fest-
landchina auszuliefern. Der Entwurf
liegt mittlerweile auf Eis. Doch den
Demonstranten geht es um mehr:
um die Zukunft ihrer Stadt.
Peking gibt sich martialisch: Ende
Juli sagte Generalmajor Chen Dao-
xiang, die Volksbefreiungsarmee sei
bereit, wenn Präsident Xi Jinping den
Einsatz befehle. Gleichzeitig hielt
die Armee öffentlich Übungen ab, in
denen sie den Umgang mit Demons-
tranten probte. Studenten, die auf
die Straße gehen, Generäle, die mit
Waffen rasseln – eine ähnliche Kon-
stellation gab es in der jüngeren Ge-
schichte Chinas schon einmal. Am


  1. Juni 1989 ließ die Staatsführung
    friedliche Studentenproteste auf
    dem Platz des Himmlischen Frie-
    dens in Peking brutal niederschla-
    gen. Der Tag ist offene Wunde und
    tabuisiertes Trauma des Landes bis
    heute. Droht in Hongkong eine
    Wiederholung?
    Aus Sicht Pekings ist die Lage tat-
    sächlich brenzlig. Die Rede ist von
    einer „Farbrevolution“ – ein Regie-
    rungsumsturz, wie er etwa in der
    Ukraine stattfand. Hinter den Pro-


testen vermutet man „schwarze
Hände“, geheime Mächte des Aus-
lands. Nachdem vergangene Woche
eine US-Diplomatin sich mit den
Anführern der Protestbewegung ge-
troffen hatte, veröffentlichte die
chinesische Presse private Infor-
mationen über diese Diplomatin.
US-Außenamtssprecherin Morgan
Ortagus nannte das Vorgehen „nicht
mehr verantwortungslos, sondern
gefährlich“. Aus dem Handelsstreit
mit den USA ist ein offener Wäh-
rungskrieg geworden. Auf Trumps
Strafzölle reagierte die chinesische
Notenbank mit einer Abwertung
des Yuan, woraufhin Trump China
einen Währungsmanipulator nann-
te. Die Proteste in Hongkong also
treffen die Machthaber in Peking zu
einem sensiblen Zeitpunkt.

Niemand will Pekings Armee


Und doch ist heute vieles anders als
auf dem Platz des Himmlischen Frie-
dens vor 30 Jahren. Bisher hat sich die
Regierung in Peking zurückgehalten.
Sie überlässt der Hongkonger Regie-
rungschefin Carrie Lam und der Poli-
zei den Job. Und trotz jüngster
Gewaltexzesse ist die Hongkonger
Polizei in Deeskalationstechniken
geschult. Alle in der Siebenmillionen-
stadt sind sich einig: Die Volks-
befreiungsarmee aus Peking ist das
Letzte, was in dieser Situation helfen
kann. „1989 bedrohten die Proteste
direkt die Stabilität des Regimes, das
ist im Moment nicht der Fall“, sagt
Edmund Wai Cheng, Professor für Poli-
tikwissenschaft an der Hong Kong
Baptist University. „Die Demonstran-
ten fordern nur eine Umsetzung gel-
tenden Rechts und eine Aufarbeitung
der Geschehnisse durch eine unab-
hängige Kommission.“
Die Mehrheit der Einwohner
Hongkongs waren Flüchtlinge, die
nach der Machtergreifung der Kom-
munisten 1949 vom Festland ka-
men. Als die britische Kolonie 1997
wieder an die Volksrepublik fiel,
waren viele Menschen in Hongkong
skeptisch. Peking aber versprach
unter dem Slogan „Ein Land – zwei
Systeme“, die Eigenständigkeit des
Stadtstaats zu wahren. Zugesichert
wurden sogar freie Wahlen, die
hatte es auch unter den Briten nicht
gegeben. Heute fühlen sich viele
Hongkonger betrogen. Von der
zugesicherten Eigenständigkeit ist
nicht mehr viel zu spüren. Neu-
reiche Festlandchinesen fluten die

Auch der Protest ist
radikaler geworden:
Demonstranten
werfen brennende
Gegenstände (o.)
und schießen Leucht-
spurgeschosse ab
(u.), blenden Polizis-
ten mit Lasern und
legen den Flughafen
lahm (o. r.). Taiwans
Studenten bezeug-
ten am Samstag
in Taipei ihre
Solidarität (u. r.)

66 15.8.2019
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