Ratgeber Frau und Familie - September 2019

(Jacob Rumans) #1
138 Ratgeber 9/2019

in die Morgensonne und betrat dann mit einem brei-
ten Grinsen im Gesicht die Schule.


„Guten Morgen, Frau Schlosser!“, tönte es ihr von
mehreren Seiten entgegen, als sie die Treppe zum Lehrer -
zimmer hinaufeilte. Sie grüßte lächelnd zurück, konnte
es aber nun kaum mehr erwarten, Oliver wiederzu-
sehen. Erst am Vortag hatte er ihr tief in die Augen
gesehen, als er den gemeinsamen Kaffee vorgeschlagen
hatte. Ihr Herz hatte einen tüchtigen Sprung gemacht,
seitdem ging ihr der Mann gar nicht mehr aus dem
Sinn. „Hättest du nicht gedacht, dass du dich noch mal
bis über beide Ohren verknallst“, schoss es ihr durch
den Kopf. Ein halbes Jahr zuvor hatte Michael, nun-
mehr ihr Ex, die Verlobung mit ihr gelöst. „Ich bin
noch nicht so weit, möchte mich noch nicht fix bin-
den“, war seine lapidare Erklärung gewesen.
Am gleichen Tag hatte er seine Sachen gepackt und
war aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen.
Noch lange danach kamen Valerie die Tränen, wenn
sie daran dachte. Doch irgendwann hatte sie den Rü-
cken gestrafft und sich entschlossen, auch ohne Mann
glücklich zu werden. Sie hatte einen wundervollen Job,
der sie erfüllte. Und liebe Freunde, allen voran Hek-
tor, ihr Fels in der Brandung. Eigentlich schade, dass
zwischen ihnen bloß rein freundschaftliche Gefühle
herrschten. Jetzt vor dem Lehrerzimmer angekommen
atmete sie tief durch, erst dann drückte sie die Türklinke
hinunter. Gleich würde sie Oliver gegenüberstehen,
dem Mann, bei dem sie ein richtig gutes Gefühl hatte.


Im nächsten Augenblick blieb ihr glatt die Luft weg.
Oliver stand mit dem Biologielehrer Dr. Hessel am
Fenster, die beiden unterhielten sich angeregt mitei-
nander. Besser gesagt schwärmte Oliver dem bärtigen
Mann von einer gewissen Lotte vor. „Es war Liebe auf
den ersten Blick“, sagte er, dabei bekamen seine Augen


einen dermaßen verträumten Ausdruck, dass
Valerie es noch aus der Entfernung von drei
Metern erkennen konnte. „Das klingt wirk-
lich bezaubernd“, sagte Klaus Hessel und
lachte. Und Oliver fügte hinzu: „Bei Lotte
und mir ist es so, als ob wir seit jeher zusam-
mengehören würden.“
Valerie, die sich wie im falschen Film fühlte,
starrte Oliver fassungslos an. Ihre Blicke trafen sich –
und der Mann hatte doch tatsächlich die Frechheit, sie
fröhlich anzustrahlen. „Guten Morgen! Wie schön,
dich zu sehen!“, rief er und eilte auf sie zu. Um Valerie
begann sich der Raum zu drehen. Nur mit größter An-
strengung schaffte sie es nicht umzukippen. „Guten
Morgen!“, antwortete sie kühl, während sie sich unauf-
fällig an einer Tischkante festhielt. „Alles in Ordnung
bei dir?“, fragte Oliver mit besorgtem Gesichtsaus-
druck, „du siehst ziemlich blass aus.“ „Alles in aller-
bester Ordnung“, blaffte sie ihn an. „Ich habe es furcht-
bar eilig. Heute steht eine Klassenarbeit in der 8c an.“
„Klar.“
Oliver wirkte sogar ein wenig zerknirscht. „Dann er-
zähle ich dir meine Neuigkeit später.“
„Das meint er nicht ernst“, dachte Valerie entsetzt. Ihm
musste doch klar sein, dass er für sie mehr war, als nur
ein Kollege. Da konnte er doch nicht vor ihr mit seiner
neuen Freundin auftrumpfen! Ein dicker Kloß ver-
schloss plötzlich ihre Kehle, kein einziges Wort würde
sie mehr rausbringen. Deshalb nickte sie Oliver bloß
kurz zu, dann hetzte sie zu ihrem Platz.

„Frau Schlosser, Sie sehen krass unglücklich aus“,
meinte später Katja, eine Schülerin der siebten Klasse,
zu ihr, als sie deren Klassenzimmer betrat. Erschro-
cken zuckte Valerie zusammen. Jetzt bitte kein Mitleid,
sonst brach sie hier vor versammelter Mannschaft glatt
in Tränen aus. „Nein, nein, ich bin nicht traurig“, sagte
sie, fügte, da ihr nichts Besseres einfiel, hektisch hinzu:
„Außer, wenn ich an euren Vokabeltest von letzter
Woche denke.“ Nun guckte Katja bestürzt aus der
Wäsche. Das sah so drollig aus, dass sich Valerie trotz
ihres Kummers ein Schmunzeln verbeißen musste.
„Keine Sorge, so schlimm ist er nicht ausgefallen“, sagte
sie und holte die Tests aus ihrer Aktentasche. Tatsäch-
lich waren die Ergebnisse wirklich passabel. Verärgert
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