Ratgeber Frau und Familie - September 2019

(Jacob Rumans) #1

über sich selbst schüttelte Valerie den Kopf. Sie durfte
sich von Oliver, der offenbar gerne flirtete, nicht den
Tag vermiesen lassen. Und schon gar nicht durfte sie
ihren Herzschmerz an ihren Schülerinnen und Schü-
lern auslassen. Mit einem breiten Lächeln wandte sie
sich an die Klasse. „Ich habe bloß einen kleinen Scherz
gemacht. Eure Testergebnisse sind ziemlich gut.“
Den Rest der Stunde schaffte sie es tatsächlich, Oliver
Knipp aus ihren Gedanken zu verbannen. Vielmehr
unterhielt sie sich mit den Kids in englischer Sprache
über Sehenswürdigkeiten in London. Doch kaum
klingelte es zur Pause, trat das Bild des sportlichen
Mannes mit den dunklen Locken wieder vor ihr
inneres Auge. Herrje! Noch
schlimmer wurde es, als sie
später Oliver im Schulflur
persönlich in die Arme lief.
„Valerie!“, rief er hörbar er-
freut auf, „ich suche dich
schon den ganzen Vormittag!“
Sie behielt es für sich, dass sie ihm mit Absicht aus
dem Weg gegangen war und sowohl das Lehrerzim-
mer als auch die Schulmensa gemieden hatte. Jetzt
hatte sie endlich Dienstschluss, doch gerade auf den
letzten Meter zum Schultor hatte Oliver sie noch
erwischt. „Was gibt es denn?“, fragte sie mit ver-
schlossener Miene.
Oliver lächelte sie schüchtern an. Normalerweise
wären längst Schmetterlinge in ihrem Bauch herum -
geflattert. Aber jetzt bestimmt nicht mehr. „Ich un-
terhalte mich so unheimlich gern mit dir“, meinte der
Flirtchampion auch noch, „und ehrlich gesagt denke
ich andauernd an dich.“
Sie traute ihren Augen kaum. Vermutlich dachte er,
dass sie nichts von Lotte wusste. Oder es war ihm
schlicht egal. Was wieder zu seiner „Neuigkeit“ passen
würde, die er ihr am Morgen so gern hatte mitteilen
wollen. „Ich habe keine Zeit, treffe mich gleich mit
Hektor“, sagte sie rasch. „Ist Hektor dein Partner?“,
fragte Oliver, ein wenig kam es ihr so vor, als ob sich
seine braunen Augen noch mehr verdunkelt hätten.
Der Mann hatte wirklich Nerven! Anstatt seine Frage
zu beantworten, sagte sie: „Wir müssen in den Tanz-
kurs.“ „Viel Spaß“, sagte Oliver matt,
dann drehte er sich um und ging mit


hängenden Schultern Richtung Lehrerzimmer. Aber
vielleicht bildete sie sich das auch nur ein. Später,
während einer komplizierten Schrittfolge beim Tango,
trat Valerie Hektor bestimmt zum fünften Mal an
diesem Abend auf den Fuß. „Das nächste Mal ziehe
ich mir Skischuhe an“, brummte er, guckte sie dabei
jedoch mitfühlend an. „Tut mir wirklich leid wegen
Oliver.“ „Pah! Der Typ interessiert mich gar nicht
mehr“, schimpfte sie halblaut und nahm sich fest vor,
sich ab jetzt nur noch aufs Tanzen zu konzentrieren.
Zu Beginn des Tanzabends hatte sie Hektor kurz
geschildert, dass Oliver eine Freundin hatte, von der
er begeistert im Lehrerzimmer rumerzählte. Nur sie,
sie naive Gans, hatte doch
gedacht, Oliver empfinde
mehr für sie als kollegiale
Freundschaft. „Sonst klappt
das aber besser“, sagte jetzt
die Tanzschulbesitzerin Re-
nate zu ihnen. Valerie hatte die etwa gleichaltrige
Frau gar nicht kommen sehen und zuckte nun pein-
lich berührt zusammen. „Sorry, es liegt an mir. Heute
bin ich nicht so richtig bei der Sache.“ „Kein Pro-
blem, manchmal hat man keinen guten Tag“, meinte
Renate und zwinkerte ihr zu.
Dann wandte sie sich an Hektor. „Was hältst du
davon, wenn wir die Schrittfolge gemeinsam durch-
gehen? Dann kannst du nachher bei Valerie besser
führen.“ Hektor nickte – und wenn Valerie sich nicht
täuschte, hatten sich seine Wangen leicht rosa gefärbt.
Auch die zierliche Tanzlehrerin strahlte übers ganze
Gesicht, als Hektor und sie in Position gingen.

Vermutlich dachte er, dass sie
nichts von Lotte wusste
Free download pdf