Lea - 24. Juli 2019

(Sean Pound) #1
Fotos: Getty Images

überhaupt mal hingebracht hat.“
Die dunkelhaarige Frau seufzt bei
der Erinnerung. „Das Wichtigste ist,
Vertrauen aufzubauen. Und das ist
gleichzeitig das Schwierigste ...“
Denn Pflegekinder haben große
Probleme damit, sich zu öffnen –
vor allem fremden Menschen ge-
genüber. Sie haben zu Hause nicht
genug Schutz, nicht genug Gebor-
genheit und vor allem nicht genug
Wertschätzung erfahren. Ihr Alltag
war meist geprägt von Unsicher-
heit, Angst und leider oft auch von
körperlicher Gewalt. Das hinter-
lässt Spuren. „Sarah ist nicht miss-
handelt worden – sie fand einfach
nicht statt. Sie wurde nicht geför-
dert, nicht beachtet, manchmal
sogar vergessen“, erzählt Susanne.
„In der ersten Zeit bei uns konnte
sie abends nicht einschlafen, und
sie litt natürlich unter Heimweh,
trotz allem liebt sie ihre Mutter.
Nach etwa einem halben Jahr hat
sie mehr Vertrauen zu uns gefasst.
Das bedeutete aber auch, dass sie
fast jede Nacht mehrmals nach mir
gerufen hat. Später dann ist sie zu
uns ins Bett gekrabbelt. Ich hab ihr
immer ein Licht angelassen, damit
sie sich besser zurechtfindet.
Die leibliche Mutter von Sarah
wollte den Kontakt halten – hat es
aber in den zwei Jahren nur vier
Mal geschafft, ihre Tochter zu se-
hen. „Es bestand die Möglichkeit,
sich alle 14 Tage in einer neutralen
Umgebung zu treffen“, erzählt die
Erzieherin. Aber immer wieder
wurden die Treffen extrem kurzfris-
tig abgesagt, oder aber sie tauchte


gar nicht erst auf. „Bestimmt ist das
Auto mal wieder kaputt“, sagte
dann die kleine Sarah zu ihrer Pfle-
ge-Mami, und die hat geduldig ge-
antwortet: „Ja, bestimmt ist es mal
wieder nicht angesprungen. Ist ja
auch ein altes Auto, da kann das
ziemlich oft passieren.“
Pflegeeltern müssen die leib-
lichen Mütter vor den Kindern im-
mer in Schutz nehmen, sie immer
verteidigen, kurz: immer die Tür
aufhalten. Denn da gibt es noch die
Rückführung – wenn die Eltern ihr
Leben wieder in den Griff bekom-


men und für ihr Kind sorgen wollen
und vor allem können. Dann be-
kommen sie ihren Sohn oder die
Tochter wieder. Deshalb lässt sich
Susanne von Sarah auch nicht
„Mami“ nennen. „Dieser Platz ist
besetzt, von der leiblichen Mutter.
Ich bin nur ein Ersatz, ich liefere
das, was es vorher nicht oder zu
wenig gegeben hat.“ Das sind nicht
nur Zuneigung und Nähe – das
sind feste Regeln, ein verlässlicher
Tagesablauf, viele Gespräche.
Die allergrößte Kunst von Pflege-
eltern ist es aber auch, belastbar zu
sein. „Es ist nicht wichtig, was ich
brauche und fühle“, erklärt Susan-
ne Völkers. „Es ist nur das wichtig,
was das Kind braucht und fühlt.
Da gelangt man manchmal schon

an Grenzen ...“ Denn es ist natür-
lich nicht getan mit drei geregelten
Mahlzeiten am Tag, mit einem ei-
genen Zimmer, Spielzeug, neuen
Klamotten. Viele Kinder brauchen
professionelle Unterstützung: Lo-
gopädie, Ergotherapie, Physiothe-
rapie, Psychotherapie. Sie haben
Wutanfälle, sie sprechen schlecht
bis gar nicht, oder sie verweigern
sich manchmal total – aus Angst
vor neuen Verletzungen und davor,
wieder verlassen zu werden. „Im
ersten Jahr war ich mit Sarah stän-
dig beim Arzt“, erzählt Susanne.
„Sie war oft krank, weil sie so
schlecht ernährt war.“
Aber jetzt ist alles gut. Das Mäd-
chen hat sich prima eingelebt, vor
einem Jahr ist sie in die Schule ge-
kommen. Sarah fragt immer selte-
ner nach ihrer leiblichen Mutter.
Und wie es aussieht, hat diese kein
Interesse daran, ihre Tochter zu-
rückzubekommen – eine Rückfüh-
rung ist deshalb unwahrscheinlich.
„Das ist meiner Meinung nach
gut für Sarah, denn hier kriegt sie
jede Unterstützung, die sie braucht.
Sie kann einen ordentlichen Schul-
abschluss machen, sie bekommt
Nachhilfe, und demnächst melden
wir sie in einer Musikschule an.“
Und weil es so gut läuft, haben Su-
sanne und Harald beschlossen,
noch ein Pflegekind aufzunehmen.
„Wir wollten immer viele Kinder!“

Gespräche über Gott
und die Welt führen
die beiden am liebsten
in der Hängematte

Susanne liest ihrem
Pflegekind gern etwas
vor: „Das war etwas
total Neues für sie“

„Ich bin nicht wichtig.
Wichtig ist, was das Kind
braucht und fühlt“

Die Zahl der Pflegekinder steigt kontinuierlich an + + + 78 Prozent stammen aus Familien,


die Hartz IV beziehen + + + 55 Prozent kommen aus Haushalten von Alleinerziehenden


Sarah gehört zur Familie. Sie hat


endlich Vertrauen zu ihrer Pflege-


Mama. Aber das war ein weiter Weg!


„Sarah fragt immer
seltener nach ihrer
leiblichen Mutter“

ü
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