Lea - 24. Juli 2019

(Sean Pound) #1
Fotos: Rowohlt Verlag, Shutterstock (4)

Wendy Mitchell bekam mit 58 Jahren die Diagnose


N


eulich ist es wieder
passiert. Es war echt
schlimm, sogar sehr
schlimm. Dieses Mal
war es nicht ein Wort,
das mir nicht eingefallen ist. Es war
auch nicht die Tasse Tee, die ich mir
gerade eingeschenkt und vergessen
habe. Es war absolut anders. Dies-
mal war alles völlig leer. Ein großes,
dunkles, schwarzes Loch.“
So beschreibt die Engländerin
Wendy Mitchell ihren Zustand, ihre
Krankheit. Mit 58 Jahren wurde Alz-
heimer bei ihr festgestellt, die Dia-
gnose lautet genau „Young Onset
Dementia“ – Demenz unter 65 Jah-
ren. Das betrifft etwa zwei Prozent
der Alzheimer-Patienten.
Alles beginnt mit einem ver-
schwommenen Gefühl wie Watte
im Kopf, mit ausfransenden Rän-

dern ihrer Erinnerungen, mit Ge-
danken wie im Nebel. Die alleiner-
ziehende Mutter von zwei Töchtern
arbeitete als Teamleiterin der Ver-
waltung im staatlichen britischen
Gesundheitswesen, und sie hatte
immer ein Top-Gedächtnis, für das
alle sie bewundert haben.
Und plötzlich hat sie diese Aus-
fälle. Hat das diffuse Gefühl, dass
irgendwas nicht stimmt. Sie stürzt

öfter mal, ohne Grund. Ihr Haus-
arzt erklärt die Symptome mit
Stress und ihrem Alter. Aber das
komische Gefühl bleibt. Wendy
sucht Rat bei einer Neurologin, und
die vermutet beginnende Demenz.
Die endgültige Diagnose will die
Ärztin in einem Jahr stellen.
Wendy fürchtet das Ergebnis, sie
will es nicht wahrhaben. Aber sie
erlebt immer mehr Einbußen im
Alltag. Plötzlich weiß sie nicht
mehr, wie man mit Gegenverkehr

abbiegt. Sie, die gut und sicher Auto
gefahren ist, hat es – vergessen.
Und immer wieder kommt ihr
Zeit abhanden. Sie erinnert sich
nicht, was sie in diesen Minuten
oder Stunden gemacht hat. Es ist
weg, einfach weg. Sie arbeitet nach
wie vor in ihrem Job, aber immer
öfter fehlen ihr die Namen zu den
Gesichtern der Kollegen, immer
öfter scheitert sie an der Bedienung
ihres Computers, immer öfter sitzt
sie ratlos vor den Tasten ihres Mul-
ti-Tasking-Telefons. Das Schlimms-
te: Sie ist sich dessen bewusst.
Der furchtbarste Moment ist der,
als sie im Büro ist und sich das
schwarze Loch auftut: „Ich hob den
Blick von meinem Schreibtisch und
befand mich an einem Ort, an dem
ich noch nie in meinem Leben ge-
wesen war, umgeben von wildfrem-
den Menschen“, beschreibt sie
dieses entsetzliche Erlebnis. Das
Einzige, was sie sicher weiß: Das
geht vorbei, hat ihr die Ärztin ge-
sagt. Und es geht vorbei. Wie lange
sie im Nichts gefangen war, das
weiß sie nicht – Zeitgefühl hat sie
nicht mehr. Da kommt die endgül-
tige Diagnose am 31. Juli 2014 nicht

wirklich überraschend. Überra-
schend dagegen ist, was Wendy
daraus macht: Sie schreibt alles auf,
aus ihrer Sicht, Tag für Tag. Solange
sie sich erinnern kann. Ihr Buch
gibt einen einmaligen Einblick in
die Gedankenwelt dementer Men-
schen. Sie schreibt: „Nach der Dia-
gnose hat sich mein Bewusstsein
geändert. Es gibt jetzt für alles ein
letztes Mal. Autofahren, Joggen,
Kochen.“ Aber trotz aller Verluste:
Wendy will kein Opfer sein. Sie will
am Leben teilnehmen. Inzwischen
ist sie 62 und Botschafterin der
Alzheimer-Gesellschaft. Sie reist
kreuz und quer durch England und
klärt Betroffene und Angehörige
über Demenz auf. Und so nimmt
sie der Krankheit ein wenig von ih-
rem Schrecken und schenkt Mut.

„Immer öfter fehlen mir
die Namen zu den
Gesichtern der Kollegen“

B


ei uns leben 1,6 Millionen
Menschen mit Demenz.
Zwei Drittel davon leiden an
einer Alzheimer-Demenz. Nach
Ansicht der Experten wird die Zahl
der Betroffenen weiter steigen.
Die Ursachen sind bis heute nicht
vollständig geklärt. Man nimmt an,
dass Eiweißablagerungen im
Gehirn Nervenverbindungen und
Gehirnzellen zerstören.

Diese Symptome deuten auf
eine Erkrankung hin
 Gedächtnisstörungen, Orientie-
rungsstörungen, Sprachstörungen,

Störungen des Urteilsvermögens,
Persönlichkeitsveränderungen. Der
Betroffene kann sich nicht mehr an
kurz zurückliegende Ereignisse
erinnern. Er hat Schwierigkeiten bei
alltäglichen Dingen – er kann zum
Beispiel nicht mehr nach Rezept
kochen. Er verirrt sich auf dem
wohlbekannten Weg zum Super-
markt. Es gibt außerdem Schwierig-
keiten mit der Einordnung von
gestern, heute oder morgen. Die
richtigen Wörter fallen ihm nicht
mehr ein, er benennt die Dinge
anders. Er sagt zum Beispiel
„Hand-Uhr“ statt „Armbanduhr“.

Haustürschlüssel werden im Kühl-
schrank oder der Spülmaschine
aufbewahrt. Patienten haben
Schwierigkeiten, Entscheidungen
zu treffen. Sie ziehen sich immer
mehr zurück, weil sie fürchten,
unangenehm aufzufallen. Je nach
Veranlagung können Verwirrtheit,
Depressionen, Ängste oder
Misstrauen auftreten, auch im
Umgang mit vertrauten Menschen.

Eine richtige Therapie gibt es trotz
aller Forschung noch immer nicht
 Zwar sollten Betroffene so früh
wie möglich zum Arzt gehen, denn

mit Medikamenten lässt sich der
Verlauf verlangsamen. Aber heilbar
ist Demenz nach wie vor nicht. Alle
Studien mit neuen Arzneimitteln
waren bis jetzt ergebnislos.

Das sind die Risikofaktoren
für eine Demenz-Erkrankung
 Das Alter ist der größte Risikofak-
tor. Auch Übergewicht, Bluthoch-
druck, ein zu hoher Cholesterin-
spiegel, zu hohe Blutzuckerwerte
erhöhen die Wahrscheinlichkeit.
Kopfverletzungen oder Gehirn-
infektionen durch Viren und Stress
sind ebenfalls Faktoren.

i TIPPS UND INFOS ZUM THEMA


Demenz: Symptome und Behandlungsmöglichkeiten


Die Engländerin leidet


unter der tückischen


Krankheit. Und sie


schreibt auf, was mit


ihr dabei passiert


„Alzheimer,


mein Weg in das Vergessen“


UNSER BUCH-TIPP:
Die Alzheimer-Pa-
tientin Wendy Mit-
chell gibt Einblick in
die Gedankenwelt
einer Dementen.
„Der Mensch, der ich
einst war“.
12 Euro. rororo

ü
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