Eulenspiegel - August 2019

(nextflipdebug2) #1

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Marvin ist acht und mein Sohn. Je-
den Nachmittag, wenn er von der
Schule nach Hause kommt, muss er
mir die gleichen angsterfüllten Fra-
gen beantworten:
Was für’n Fraß haben sie euch
vorgesetzt?
Wurdest du gezwungen zu lesen?
Wurdest du gemobbt?
Hat dich Frau E. mit giftigen Bli-
cken bedacht?
Hat der Musiklehrer wieder
Kreide nach dir geworfen?
Dann erhalte ich Antworten, sto-
ckend, lustlos, genuschelt – aber im-
merhin: Antworten, die mir die Si-
cherheit geben, dass mein Junge
nicht misshandelt wird, jedenfalls
nicht heute und nicht körperlich.
Und ihm gibt mein einfühlsames
Fragen die Gewissheit, dass seine
Mutter sich für ihn interessiert.
Seine Antworten auf die ersten
beiden Fragen sind meist ungenau
(schwaches Kurzzeitgedächtnis),
und ich bohre nicht weiter nach.
Aber bei der dritten Frage erwarte
ich geistige Wachheit und sprachli-
che Präzision: Sie muss mit einem
klaren »Nein« beantwortet werden.
Wenn nicht, sage ich alle Termine
für den nächsten Tag ab und hospi-
tiere, für die jeweilige pädagogische
Kraft völlig überraschend, im Un-
terricht. In den letzten zwei Schul-
jahren war das nur einmal nötig,
weil ein Mitschüler, ein absolutes
Weichei, meinen Marvin als
Weichei bezeichnet hatte, und ich
verhindern wollte, dass aus dieser
Bagatelle ein unreflektiertes Bild
meines Kindes im Klassenverband
entsteht. Ich setzte mich auf einen
der Ministühle neben den »Erbsen-
feind« meines Sohnes (Marvin
meinte natürlich »Erzfeind«) und
schaute ihm beim mühsamen Buch-
stabenmalen zu. Danach sprach er
Marvin nie wieder an, auch sonst
blieb er still.
Doch nun passierte es wieder.
Marvin wurde offenbar gemobbt, ja,
körperlich schwer drangsaliert,
wenn nicht gar gefoltert. Schluch-
zend zeigte er mir seine Wunden:
blaue Flecken an den Oberschen-
keln. »Ich bin praktisch tot!«, schrie
er. Er war beim Völkerball »abge-

schossen« worden. Abgeschossen
wie eine waidwunde Sau!
Er war nicht nur tot, sondern
auch geächtet. Niemand wollte ihn
mehr im Team haben. Er sei eine zu
leichte Beute, meinten beide Team-
führer (der Führerkult geht schon
in der Grundschule los). Marvin
war untröstlich. Und ich empört:
Völkerball – das ist doch nichts an-
deres als Krieg, Genozid »spaßeshal-
ber«, »aus sportlichen Gründen«:
Eines der beiden Völker muss dran
glauben.
Herr Klausen ist ein attraktiver
Junglehrer mit leuchtend weißen
Zähnen und strammen Waden. Ich
nahm mir vor, nicht verkrampft,
überbesorgt oder hysterisch zu wir-
ken, nicht wie eine Westmutti rüber-
zukommen. Bei uns früher hieß das
Spiel »Felderball«, begann ich
meine Ansprache. Also die Felder
waren die Gegner, nicht die Völker.
Da könne er das Match ja gleich
»deutsches Volk gegen die Türken«
nennen.

Herr Klausen verstand sofort und
lächelte mit seinen makellosen Zäh-
nen. Innerlich verzieh ich ihm
sofort – er war noch ein Baby, als es
verpönt war, Krieg zu spielen und
auf dem Sportplatz Völker aufein -
anderzuhetzen. Eigentlich mag er
das auch nicht. Er gehört einer Ge-
neration an, die für gar nichts mehr
kämpfen will (höchstens für ihre
Verbeamtung) und alles irgendwie
»okay« findet. Und das passte mir
ganz gut. Ich schlug vor, alle Mob-
bingspiele abzuschaffen und eine
Arbeitsgruppe zu gründen, die Al-
ternativen für bewegungsbetonte
Gruppen-Events ersinnt, bei denen
sich niemand wie eine lahmende
Wildsau fühlen muss.
Da wurde Klausen vorsichtig.
Der Lehrplan – ich wisse ja, da
könne er auch nicht aus seiner Haut.
Der Lehrplan sehe die Simulierung
des Völkermords nun einmal vor,
offenbar für den Fall jäher Wendun-
gen in der Weltpolitik, z.B. wenn

Völker der Wel


Der Lehrplan sehe die
Simulierung des Völker-
mords nun einmal vor
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