Eulenspiegel - August 2019

(nextflipdebug2) #1
WELT DERARBEIT

Schon immer starben Berufe aus. Ein kursorischer Abriss


Wo sind die Brotmesser?


Nicht nur im Kontext der digitalen Revolution, nein auch schon zu Zeiten der industriellen Revolution, der Fran-
zösischen Revolution und bereits in der Bronzezeit hat der Fortschritt bedenkenlos allerlei Berufe hinweggefegt.
Viele davon sind vollkommen in Vergessenheit geraten, manche aber (noch) nicht. Zum Beispiel die Folgenden.

Brotmesser
Lange bevor Salz, Gold oder Finanz-
derivate der Maßstab für Wohl -
stand wurden, war’s das Brot, auf
welches der Mensch sein Begehren
richtete, primär im Spätmittelalter.
Mit entsprechend hohem Prestige
waren all jene Berufe versehen, die
mit dem Brot zu tun hatten, vom
Müller über den Bäcker bis zum Er-
finder der Brötchentaste. Das ist
noch bekannt. Weitgehend in Ver-
gessenheit geraten sind jedoch Ar-
beit und Status des Brotmessers, der
zu Nutz und Frommen der Konsu-
menten darauf achtete, dass der
Laib Brot auch das rechte Maß, For-
mat und Gewicht aufwies und kein
Schindluder damit getrieben wurde.
Noch heute hängen in den Rathäu-
sern jener (vor allem Hanse-)Städte,
die über das sogenannte Brotrecht
verfügten, die Maßbänder, mit wel-
chen der Brotmesser das Brot ver-
maß. Was es da nicht alles gab! Den
lübischen Laib in Lübeck, den köl-
schen Kanten in Köln, die stralsund-
sche Stulle in Wismar ... Irgend-
wann begehrte das städtische Bür-
gertum auf, stürzte mit dem Ruf
»Der Mensch lebt nicht vom Brot al-
lein!« nicht allein das Brotmonopol
der Brotlobbyisten, sondern auch
gleich das ganze Mittelalter. Und die
Neuzeit begann.


Büstenhalter
In frühmittelalterlichen Zeiten, als
der Kaiser über keinen festen
Wohnsitz verfügte und im Land um-
herziehen musste, von Pfalz zu
Pfalz, um überall nach dem Rechten
zu sehen, konnte er nicht allerorten
zugleich sein. Also kamen findige
Vögte und listige Landstörzer, wel-
che die Ländereien und Rechte des
obersten Herren zu verwalten hat-
ten, auf die gescheite Idee, bei Pro-
zessen, Prozessionen und anderem
Prozedere den Kaiser stellvertre -

tend mitzuführen bzw. als anwe -
send zu symbolisieren mittels einer
ihn darstellenden Büste, welche der
Büstenhalter – ein Ehrenamt son-
dergleichen – dem Volk sichtbar
hoch über den Köpfen entgegenzu-
halten hatte. Mit dem frühmittelal-
terlichen Herrschaftssystem ging
auch dieser anstrengende Job zu-
grunde.

Geigerzähler
Heute kaum noch vorstellbar: In
vordigitalen Zeiten, als noch nicht
alles und jedes automatisch ge-
scannt wurde, hat man alles und je-
des manuell erfasst und abgezählt,
entweder direkt im Kopf drinnen
oder mit den Fingern. Es gab Berufs-

gruppen, die ausschließlich mit
dem Zählen beschäftigt waren;
Stromzähler etwa, die die Ströme
zählten. Und jedes Orchester hielt
sich Geigerzähler, die zählten, bevor
das Musizieren anhub, ob auch alle
Geiger anwesend waren: Erster Gei-
ger, zweiter Geiger etc. pp. Stellte
sich raus, dass ein Geiger bzw. eine
Geigerin fehlte, musste man bei Gei-
gers daheim anrufen und nachfra-
gen, was los ist.

Rosstäuscher
Einem geschenkten Gaul ins Maul
zu schauen galt bereits unseren Alt-
vorderen als frivoles Hexenwerk,
welches Unglück über Stadt und
Erdkreis brachte. Man zog merk-

würdige Schlussfolgerungen: So
durften bei Strafe Gäule und Pferde,
Zossen und Mähren, Klepper und
Ponys nicht mehr verschenkt, son-
dern ausschließlich auf eigens ein-
gerichteten Pferdemärkten käuflich
erworben werden, alles andere hatte
die Obrigkeit streng verboten. Also
sannen die bauernschlauen Bauern
auf Abhilfe und erfanden die Profes-
sion des Rosstäuschers, der ein Ross
weder verschenkte noch gegen Geld
erwarb, sondern im Auftrag seiner
Auftraggeber gegen irgendetwas an-
deres – eine Kuh zum Beispiel –
tauschte bzw. täuschte, wie man da-
mals noch sagte. Erst die Erfindung
des Fahrrads im Jahr 1817 machte
die Rosstäuscher arbeitslos.

Schwarzhändler
Ob für Teerpappe, Vinylschallplat-
ten oder Leichenwagen – vielfältig
war der Bedarf an schwarzer Farbe
in alter Zeit, und entsprechend er-
wartungsvoll sahen die Schwarzma-
ler dem Frühjahr entgegen, wenn
auf den Höhen des Schwarzwalds
der lange Winter seinem Ende ent-
gegenging und sich nach der
Schneeschmelze die Schwarzseher
wieder in die Forsten begaben, um
in deren Dickicht die ersten
Schwarzwurzeln auszugraben, aus
denen umgehend die schwarze
Farbe in nach alter Überlieferung
von Generation zu Generation wei-
tergegebener Art extrahiert wurde.
Dann beendeten bald auch die
Schwarzhändler ihren saisonalen
Müßiggang, stiegen schwer bepackt
hinab in die Täler und zogen hinaus
in die Fremde, um dort ihr kost -
bares Gut auf den Schwarzmärkten
feilzubieten. Bis es ihnen eines
Tages zu bunt wurde und sie ihr tra-
ditionsreiches Gewerbe einstellten
für immerdar.

THOMASSCHAEFER
ZEICHNUNG: ANDRÉPOLOCZEK
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