Die Welt am Sonntag - 18.08.2019

(lily) #1

Im größten


OPEN-


AIR-KINO


der Welt


Beim Filmfestival von Locarno kann


man einen Pilotenlehrgang absolvieren


oder im Platzregen versinken.


Die bewegendsten Werke sind in


einer Retrospektive des schwarzen


Films zu sehen


Auf der Piazza Grande von Locarno ist ausverkauft nicht gleich ausverkauft

©
LOCARNO FESTIVAL/GABRIELE PUTZU

/

Wer im August ein Gesamtkunstwerk
genießen will, der muss nach Bayreuth
fahren. Dieser Satz, könnte man mei-
nen, gilt immer noch, und das obwohl
Wagner neuerdings Konkurrenz bekom-
men hat. Vom Haus Wahnfried aus dem
Hofgarten und die Fußgängerzone run-
ter, schon steht man vor dem einzigen
Multiplexkino der Stadt (ehrlich gesagt,
überhaupt dem einzigen Kino). Eine ko-
reanische Firma hat dort eine soge-
nannte 4-DX-Anlage installiert, angeb-
lich die erste Europas. Damit werden
Filme erlebnistechnisch in höhere Di-
mensionen gepusht. Bisher kannten wir
sie in Ton, Farbe und mit räumlichem
Sehen. Ab sofort gibt es sie zusätzlich
mit Gerüchen, Qualm, Wind und Regen
aus Sprinkleranlagen.

Vor der Vorstellung von „Fast and Fu-
rious: Hobbs & Shaw“, was statt „Lo-
hengrin“ auf dem Programm steht,
trägt ein junger Mann Warnhinweise
vor, die es zweifelhaft erscheinen las-
sen, ob man den Saal lebendig verlassen
wird. Man solle die Füße ja nicht vom
Trittbrett nehmen, mahnt er, und es sei
davon abzuraten, sich auf dem Weg zur
Toilette zwischen den Sitzen durchzu-
quetschen. Das Popcorn bitte gut fest-
halten, und ab geht die Post. Immer
wenn sich The Rock und Jason Statham
prügeln oder wenn fünf zusammenge-
bundene Pick-up-Trucks mit einem
Kampfhubschrauber Fingerhakeln spie-
len, ruckelt der Sitz hin und her, was
sich anfühlt wie eine Trockenübung im
Achterbahnfahren. Leider spielen die
letzten zwanzig Minuten im Regen.
Durchnässt bis auf die Knochen schlot-
tern wir zurück ins Hotel.
Aber warum ist hier von Bayreuth die
Rede, von wasserspritzenden Korea-
nern und einem perzeptiv aufgemotz-
ten Blockbuster für Autofreaks? Eigent-
lich soll es doch um was ganz anderes
gehen. Und zwar um das Filmfestival
von Locarno, angestammtes Refugium
von achtstündigen kasachischen Meist-
erwerken oder zumindest hermetischen
französischen Filmessays. Der Einwand
ist verständlich. Aber tatsächlich hängt
das alles zusammen. Erstens liegt Bay-
reuth auf halber Autostrecke von Berlin
an den Lago Maggiore. Und zweitens
besteht zuweilen die größte Errungen-
schaft einer neuen Technologie darin,
einem bewusst zu machen, was man
vorher schon alles hatte.
Zum Beispiel den Regen. Der ist der
beständigste Sommergast am Lago
Maggiore, genauer gesagt auf der Piazza
Grande von Locarno, die nach Einbruch
der Dunkelheit mit ihren 8000 Plätzen
zum größten Open-Air-Kino der Welt
mutiert. Wetten, dass das regelmäßig zu
Filmbeginn um 21.30 Uhr einsetzende
Gepladder immer schon da war, selbst
in den Urzeiten, bevor die Gebrüder Lu-
mière den Film als Kunstform erfanden
und das 35-Millimeter-Format einführ-
ten? Dieses Jahr ist es besonders heftig,
sozusagen monsunsartig. Den Regen in
Locarno muss man erlebt haben. Dies-
seits von Kalkutta ist er einmalig. Man
stelle sich ein olympisches Schwimmbe-
cken vor, das innerhalb weniger Minu-
ten über dem eigenen Kopf geleert wird.
Im ausverkauftesten Film des Festi-
vals – „ausverkauft“ ist in Locarno stei-
gerbar –, Quentin Tarantinos „Once
Upon a Time in Hollywood“, der außer
Konkurrenz gezeigt wird, hat Leonardo
DiCaprio kaum dreimal gehustet, als die
ersten fiesen Platscher fallen. DiCaprio,
der sehr gut einen sehr schlechten
Schauspieler spielt, vergisst gerade sei-
nen Text.
Das Piazza-Publikum ist ein Profi
und reagiert aufs Stichwort. Überall be-
ginnt Plastik zu knistern. Tausende Ein-
weg-Regenjacken werden aus den Festi-
valtaschen im Leopardenlook genestelt.
Von oben, aus der um diese Uhrzeit al-
lein Fledermäusen und formal ambitio-
nierten Regisseuren vorbehaltenen Vo-
gelperspektive, muss das Publikum aus-
sehen wie ein grotesk aufgeblähtes Ein-
satzteam der Spurensicherung, das den
Cielo Drive vor Sharon Tates und Ro-
man Polanskis Haus in Beverly Hills
komplett verstopft.
So viel zum Regen. Qualm und Ge-
stank gibt es auch, dafür sorgt der ket-
tenrauchende Nebenmann. Passt per-
fekt zum Tarantino, wo wenig passiert
außer Rauchen und Autofahren. Wenn
Brad Pitt aus der Einfahrt schlittert,
hätte in Bayreuth der Sitz gewackelt. In
Locarno brechen die Stühle gleich zu-

sammen. Alle fünf Minuten kracht es ir-
gendwo und jemand fällt hintüber. Ano-
nyme Witze machen die Runde, die
neue Festivalchefin Lili Hinstin müsse
halt Vitra als Sponsor gewinnen, oder:
Die Schweiz sei auch nicht mehr, was sie
mal war. Nur wer zuvor im Bayreuther
Cineplex Station gemacht hat, schweigt
und genießt die wahre erste 4-DX-Loca-
tion Europas.
Im Wettbewerb der Filmfestivals un-
tereinander nimmt Locarno eine Son-
derstellung ein. Cannes ist König und
Venedig mürrischer Thronfolger, dann
kommt Toronto, das die letzten großen
Stars abgreift. Die Berlinale hat meis-
tens das Nachsehen, findet aber immer-
hin im hippen Berlin statt, wenn auch
dummerweise im Februar bei minus 40
Grad. Mit Glück dreht gerade George
Clooney in Babelsberg und schaut vor-
bei, oder Willem Dafoe nimmt sich ein
Herz und akzeptiert „in person“ einen
Ehrenbären fürs Lebenswerk. Locarno
folgt gefühlt auf dem fünften Platz. Es
streckt sich zur Decke, aber die ist hoch,
zumal auf der Piazza. In diesem Jahr hat
es als Ehrengast nur für Hilary Swank
gereicht. Tarantino „couldn’t make it“
und schickt einen Videogruß.
Damit wenigstens Joseph Gordon-
Levitt vorbeikommt, der in „Inception“
an der Seite von DiCaprio spielte, des-
sen Gesicht man aber immer sofort ver-
gisst, ist „7500“ vom jungen deutschen
Regisseur Patrick Vollrath zur Weltpre-
miere auf die Piazza geladen. Es geht
um eine Flugzeugentführung, die sich
so peinlich an alle Regeln des Genres
hält, als säße man in einem Pilotenlehr-
gang. Vollrath, Jahrgang 1985, ist im
Harz aufgewachsen und hat einen Stu-
dentenoscar gewonnen. „7500“ ver-
schmerzt sich leichter, wenn man ihn
als Fingerübung eines aufstrebenden
Talents versteht. Es ist eine Leistung,
über 90 Minuten den engen Raum des
Cockpits und der Flugzeugentführungs-
klischees nicht zu verlassen und trotz-
dem die Spannung zu halten. Amazon
hat zugeschlagen und wird den Film in
etwa sechs Monaten zeigen.
Lili Hinstin, 1977 geboren und Nach-
folgerin von Carlo Chatrian, dem neuen
Berlinale-Chef, fängt ihre künstlerische
Leitung mit einem doppelten Bekennt-
nis zur Kunst an: Es heißt wieder „Lo-
carno FilmFestival“ (nach Chatrians
„Locarno Festival“). Und vor dem wun-
derschönen Eröffnungsfilm „Magari“,
dem Debüt der italienischen Regisseu-
rin Ginevra Elkann, erklingt die Stimme
des Altmeisters Jean-Luc Godard.
„Brief an Freddy Buache“ heißt der elf-

minütige Kurzfilm von 1982, ein lakoni-
sches cineastisches Manifest. Die Ka-
mera schwebt über Wolken und Wasser,
und Godard zitiert Ernst Lubitsch: Wer
die Berge und das Grün filmen könne,
könne auch den Menschen filmen. An-
derntags wird man feststellen, wie sehr
zumal Tarantino die Lektion verinner-
licht hat. Seine private Version von Los
Angeles ist der gar nicht so geheime
Hauptdarsteller. Der Plot ist ein Ort
und eine Zeit.
Den „definitiven Film über Los Ange-
les“ hat Tarantino aber schon in den
Neunzigern gedreht – „Jackie Brown“.
Die Einschätzung stammt von Greg de
Cuir Jr., dem Kurator der Retrospektive
„Black Light“, die sich der Geschichte
des schwarzen Films widmet. Wie jeden
Tag vier-, fünfmal steht de Cuir Jr. vor
der Leinwand im renovierten GranRex.
Das alte Prachtkino liegt in einer klei-
nen Gasse an der Seite, wo die Piazza
zum Castello Visconteo ausläuft, dem
Stadtschloss, das sich zwischen 1342
und 1532 im Besitz der Mailänder Fami-
lie Visconti befand, aus der Jahrhunder-
te später der berühmte Regisseur ent-
springen sollte.
Die Retrospektive im GranRex er-
streckt sich über das ganze 20. Jahrhun-
dert und atmet, weil sie auf jedes Dog-
ma verzichtet, einen freien, coolen
Geist. „Ich wollte kein Getto bauen“,
sagt de Cuir Jr. „Diese brillanten
schwarzen Regisseure sollen Seite an
Seite mit den Maestros des internatio-
nalen Films betrachtet werden.“ Pasoli-
nis „Notizen für eine afrikanische Ores-
tie“ läuft neben Blaxploitation-Klassi-
kern wie Melvin Van Peebles „Sweet
Sweetback’s Baadasssss Song“ oder
„Superfly“. Die Regisseurin Euzhan Pal-
cy erzählt von den Widerständen, die
sie überwinden musste, um Anfang der
Achtziger das bewegende Meisterwerk
„Die Straße der Negerhütten“ über das
Leben auf den Zuckerrohrplantagen
von Martinique zu drehen.
Im Wettbewerb wiederum läuft ein
Film, der wie der ideale Abschluss der
„Black Light“-Reihe wirkt: „The Last
Black Man in San Francisco“, das Debüt
des jungen Weißen Joe Talbot. Surreal
und poetisch erzählt der Film – vorder-
gründig eine Gentrifizierungsgeschich-
te – von der Suche eines jungen Schwar-
zen nach einer Heimat und Identität.
Die farbgesättigten Bilder frieren fest,
bis sie fast zu explodieren scheinen.
Aber eben nicht in Aggression, sondern
in Trauer, die sich in Reife verwandeln
wird. Ganz groß, auch ohne 4-DX. Da-
nach geht es raus in den Regen.

W

VONJAN KÜVELER

Ein Meisterwerk von 1983: „Die Straße der Negerhütten“ von Euzhan Palcy
erzählt vom Leben auf den Zuckerrohrplantagen auf Martinique

©

RENÉ MARRAN/JMJ INTERNATONAL PICTURES

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18.08.1918. AUGUST 2019WSBE-VP1


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1 8.AUGUST2019 WELT AM SONNTAG NR.33 KULTUR 51


V


or der Tür des Plenarsaals vom
Berliner Verwaltungsgericht ste-
hen Knaben. Man darf sie so nennen,
obwohl sie die Pubertät schon eher
hinter sich haben, weil sie hier vor der
Tür ein bisschen singen und weil ihr
Chor hier, am Ende eines Gangge-
ffflechts, das Kafka viel Freude gemachtlechts, das Kafka viel Freude gemacht
hätte, vor Gericht steht.

Das heißt: nicht eigentlich ihr Chor,
sondern die Universität der Künste zu
Berlin, die ist Rechtsträgerin des
Staats- und Domchors von Berlin, der
ältesten Musikeinrichtung der Stadt.
RRRund fünfhundert Jahre alt, immer einund fünfhundert Jahre alt, immer ein
Knabenchor. Das wäre kein Grund für
die Kameras, die hier in solcher
Mannstärke versammelt sind wie
sonst nur bei schwereren Wirtschafts-
verbrechen. Dieser Prozess passt in ei-
ne Zeit, in der, zur Freude einer hyste-
risierungsbereiten Öffentlichkeit, bis

e Zeit, in der, zur Freude einer hyste-
isierungsbereiten Öffentlichkeit, bis

e Zeit, in der, zur Freude einer hyste-

zum Schleifen der letzten Reservate
angeblicher Genderungerechtigkeit
nach vermeintlichen Diskriminie-
rungsresten gefahndet wird.
WWWas der Fall ist: Einem neunjähri-as der Fall ist: Einem neunjähri-
gen Mädchen war die Aufnahme in
den Knabenchor verweigert worden.
Wir sind am Endpunkt eines Streits,
der drei Jahre zuvor seinen Ausgang-
punkt nahm. Und wir wären nicht
hier, wenn sich alle Beteiligten zwi-
schendurch nicht ziemlich daneben-
benommen hätten. Die Universität,
deren Dekan der um ein Vorsingen
nachfragenden Mutter (der Rechtsan-
wältin, die heute die Anklage vertritt)
in einer übellaunigen Mail mitteilte,
dass ja „auch kein/e Klarinettist*in“
sich „in ein Streichquartett“ einkla-
gen könne und also niemals ein Mäd-
chen in einen Knabenchor käme. Die
Mutter, die schon Klage erhoben hat-
te, bevor das Vorsingen überhaupt
stattfand, bei dem das Mädchen dann
durchfiel. Das Kind, das beim Vorsin-
gen, das es mit Anstand hinter sich
brachte, als Motivation, warum es
denn unbedingt in diesen Knabenchor
wolle, sagte, es wolle halt mal was
Neues ausprobieren.
Für die Akustik entschuldigt sich
der Richter gleich. Ist nicht die Phil-
harmonie hier, akustisch relativ tot.
Das Mikrofon funktioniert nicht wirk-
lich, er wolle das Ding aber auch nicht
verschlucken. Muss man eben still
sein. Von Chorgesängen im Saal bittet
er Abstand zu nehmen.
Die Verhandlung, die dann folgt,
muss man sich vorstellen wie das
Schlagen einer Skulptur aus einem un-
ansehnlichen Stück Stein. Alles wird
aaabgeklopft. Der Richter versucht,bgeklopft. Der Richter versucht,
wenn er nicht gerade damit beschäftigt
ist, den Zwischenstand in ein Diktafon
zu sprechen (Berlins Justiz hat kein
Geld für Protokollanten), Abkürzun-
gen zu nehmen, testet die Beteiligten,
ob sie das alles wirklich wollen, was
hier geschieht.
VVVor allem will er es von Kai-Uwe Jir-or allem will er es von Kai-Uwe Jir-
ka wissen. Jirka leitet den Staats- und
Domchor, er entscheidet, wer aufge-
nommen wird. Er erklärt, dass es an
der UdK ja auch einen exzellenten
Mädchenchor gibt. Dass es nicht ums
Geschlecht geht, sondern um die
Klangfarben und dass aus biologischen
Gründen der Klang eines Knaben an-
ders ist als der einer Mädchenstimme.
Er erklärt das Klangideal für seinen
Exzellenzchor, der in einer Liga singt
mit den Windsbacher Knaben, den
Thomanern, den Tölzern. Er erklärt,
wwwarum in Mahlers Achter zwischenarum in Mahlers Achter zwischen
den beiden gemischten Erwachsenen-
chören zwingend ein Chor aus Kna-
benstimmen singen müsste. Er erklärt
die Endlichkeit einer Knabenstimme.
Und er erklärt, dass es Folter wäre, ei-
ne Mädchenstimme, so knabenhaft sie
von Natur aus klingen möge, in eine
Knabenstimme auszubilden.
Der Redeanteil der Mutter verhält
sich umgekehrt prozentual zu ihrer
Redezeit im Vorfeld. Sie bringt briti-
sche Forschungen vor, einen Aufnah-
metest ihrer Tochter in ein musikbe-
tontes Gymnasium und die Tatsache,
dass sechzig Prozent der Menschen ei-
nen Mädchen- nicht von einem Kna-
benchor unterscheiden könnten. Die
AAArgumente der Gegenseite hält sie fürrgumente der Gegenseite hält sie für
vorgeschoben.
Drei Stunden wird gefragt. Und ins
Diktafon gesprochen. Gut drei Stun-
den wird das Urteil gesucht. Die Klage
wwwird abgewiesen. Berufung nicht aus-ird abgewiesen. Berufung nicht aus-
geschlossen.

Wer hört die


Differenz?


Ein Prozess über die


Frage, ob ein Mädchen im


Knabenchor singen darf


VONELMAR KREKELER

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