Die Weltwoche - 08.08.2019

(Ben Green) #1

Weltwoche Nr. 32.19 11
Bild: Alastair Grant (AP, Keystone)


(Catch-22!) eine Wahl gewinnen, wenn er sein
Versprechen, nämlich den Brexit zu vollzie-
hen, nicht eingelöst hat?
Für Cummings sind die Würfel schon gefal-
len: Die Labour Party hat ihre Chance verpasst,
rechtzeitig einen Misstrauensantrag zu stel-
len, der Neuwahlen vor dem 31. Oktober nötig
machen würde. Spätestens an diesem Tag
muss Grossbritannien aus der
EU austreten, so dass sich nur
die Frage stellt: «Wie abrupt?»
Ruth Lea, eine angesehene Öko-
nomin der Arbuthnot-Banken-
gruppe, veranschlagt die Chan-
cen eines «No Deal»-Brexits auf
75 Prozent.

Aufregende Zeiten
Boris selbst hat die Möglichkeit
eines «harten» Brexits als «ver-
schwindend gering» bezeich-
net. (Andererseits hat er seine
Chancen, Premierminister zu
werden, einmal so beschrieben:
«Eher werde ich wohl als Olive
wiedergeboren werden.») Tat-
sächlich liegt die Entscheidung
nicht mehr bei ihm. Sie hängt
von der Bereitschaft der EU ab,
an den Verhandlungstisch zu-
rückzukehren, was bislang ab-
gelehnt wurde. Dies könnte sich freilich än-
dern, sobald die EU erkennt, wie entschlossen
Britannien – unter Cummings und Gove – sich
auf einen «No Deal» vorbereitet. Gewiss wird
es Schwierigkeiten geben, aber die werden zu
bewältigen sein, ganz abgesehen davon, dass
wir die 39 Milliarden Pfund behalten werden,
die May törichterweise zu Beginn ihrer
«Verhandlungen» mit der EU als Zeichen
ihres guten Willens zusagte.
Unter Boris Johnson ist Britannien also in
einer starken Position. Vieles könnte schiefge-
hen – etwa durch einen verpfuschten Kompro-
miss-Brexit, bei dem das Land weiterhin unter
der Jurisdiktion des Europäischen Gerichts-
hofs stünde. Und es gibt diverse ideologische
Schwachstellen, wie etwa Boris’ ökonomisch
unsinnige, anti-empirische, demonstrative
Bereitschaft, bis 2050 Klimaneutralität anzu-
streben. Dennoch: Für einen britischen Kon-
servativen sind es aufregende Zeiten. Zum ers-
ten Mal seit Margaret Thatchers Amtsantritt
1979 können wir wieder einer strahlenden Zu-
kunft entgegenblicken.
Boris, allseits als Clown abgeschrieben, ent-
puppt sich als menschlicher Dynamo. Der un-
gestüme Prinz hat sich in König Heinrich V.
verwandelt. Die Zukunft ist strahlend, die
Zukunft ist blond.

batch gespielt wird) schäumt geradezu vor
Verachtung für die sklerotische, antidemokra-
tische, globalistische politische Klasse, die Eu-
ropa in den Nachkriegsjahrzehnten dominiert
hat. Genau das hat ihn dazu gebracht, den er-
folgreichen Aufstand gegen das proeuropäi-
sche Establishment anzuführen. Und es treibt
ihn auch in seiner neuen Rolle als Chefstratege
der Regierung Johnson an.
Wie Trump ist auch Cummings fest ent-
schlossen, «den Sumpf trockenzulegen»: all
jene Figuren im Staatsdienst – die Ministerial-
beamten, die politisch korrekten NGOs, die
rückgratlosen Diplomaten –, die, obschon an-
geblich neutral, nicht nur den Brexit nach
Kräften torpediert, sondern den Staat ganz
allgemein massiv gestärkt haben. Dieses Prob-
lem geht auf Tony Blair zurück, der die Beam-
tenschaft auf einen entschieden linken Kurs
brachte. Nicht zuletzt deswegen hat es keine
konservative Regierung seit Margaret
Thatcher geschafft, ein einziges unverkennbar
konservatives Gesetzesvorhaben durchs Parla-
ment zu bringen.
Mit anderen Worten: Der radikale Brexit ist
erst der Anfang dieser ambitionierten Regie-
rung. Damit die Sache aber auch klappt, muss
Boris sein Versprechen einhalten, dass das Ver-
einigte Königreich spätestens am 31. Oktober
aus der EU austreten wird. Andernfalls kön-
nen die Tories einpacken, und das dürfte zu
einer Regierung unter Jeremy Corbyns anti-
semitischen, mit Terroristen sympathisieren-
den Marxisten führen.
Deshalb wird der Vollzug des Brexits für
Boris’ Regierung in den nächsten drei Mona-
ten allerhöchste Priorität haben. Cummings
hat alle Ministerien in Alarmzustand versetzt.
Laut Mail on Sunday müssen Mitarbeiterteams
um 6.10 Uhr (nach den Frühnachrichten auf
BBC 4) zu einer ersten Besprechung antreten,
um 8 Uhr dann gibt es eine Sitzung des inneren
Zirkels, zu der Boris um 8.30 Uhr erscheint, so-
wie um 19 Uhr einen Pflichttermin für alle Mit-
arbeiter. Den Ministern wurde klargemacht,
dass keiner von ihnen unersetzlich sei und
dass sie weg vom Fenster seien, wenn sie Infor-
mationen an die Presse weitergäben.


Neue Ernsthaftigkeit


All das verträgt sich überhaupt nicht mit der
Lässigkeit, die wir vom Premierminister ge-
wohnt sind. Als Journalist war er berüchtigt
dafür, Termine deutlich zu überziehen. Als
Abgeordneter agierte er ähnlich erratisch. Sein
rhetorisches Talent stellte er im Parlament nur
selten unter Beweis, und selten war er in der
Sache gründlich vorbereitet. Diese Unzuver-
lässigkeit könnte der Grund gewesen sein,
weshalb Michael Gove ihm, dem Mitbewerber
um die Nachfolge von Premierminister David
Cameron, in dem chaotischen Durcheinander
nach dem EU-Referendum 2016 in den Rücken
fiel. Zu seinem Entsetzen musste er feststellen,


dass Boris, statt sich auf die Übernahme der
Regierung vorzubereiten, an einem Cricket-
match teilnahm, den Earl Spencer, sein alter
Schulfreund (und Bruder von Prinzessin
Diana) organisiert hatte.
Doch nun geht es ums Ganze. Wie viele
Oxford- Absolventen arbeitet Boris am besten
unter Zeitdruck, alles wird in koffeingestütz-
ter Hyperaktivität auf den letz-
ten Drücker erledigt. Die drei
«vergeudeten» Jahre unter The-
resa May waren sozusagen seine
Chance. Sie produzierten genau
jenen Sturm von Krise und
Dringlichkeit, den Boris
brauchte, um sich, wie
Churchill, als Retter der Nation
in ihrer dunkelsten Stunde zu
präsentieren.
Immerhin strahlt er eine neue
Ernsthaftigkeit aus. Seine
Schroffheit, seine witzige Art
sind noch immer da (Boris ist,
wie Trump, gewillt, seinen
eigenen Regierungsstil zu pfle-
gen und nicht den, der von der
schmallippigen, ängstlichen
politischen Klasse goutiert
wird), aber dahinter steckt eine
spürbare Radikalität und Ent-
schlossenheit. Zur grossen
Überraschung all jener, die Boris als einen
Mann sehen, der allseits beliebt sein will, war
seine Umbildung des Kabinetts von Theresa
May einigermassen brutal. Ebenso aufschluss-
reich ist die schnelle Rehabilitierung seines
alten Feindes und Rivalen Gove.
Gove bekam den Posten des Chancellor of
the Duchy of Lancaster, was ungefähr dem
Amt des stellvertretenden Premierministers
entspricht, und als solcher wird er den Vollzug
des Brexit dirigieren. Die gute Nachricht:
Gove ist als fähigster Minister gewiss imstan-
de, Dinge zu bewegen. Die schlechte Nach-
richt: Seine Vorstellung von einem sinnvollen
Brexit – möglicherweise eine abgeänderte Ver-
sion von Theresa Mays unpopulärem Aus-
trittsabkommen, ohne den «Backstop», der
dafür sorgen würde, dass Nordirland faktisch
weiterhin zur EU gehört – könnte weder mit
den Vorstellungen von Nigel Farages Brexit-
Partei vereinbar sein noch mit denen der radi-
kalen Brexiteers in der European Research
Group.
Hier nun wird es kompliziert, und wer Ih-
nen sagt, was demnächst passieren wird, ist ein
Narr oder ein Lügner. Klar ist nur, dass eine
grosse Kluft besteht zwischen dem Wunsch
der Bevölkerung in Sachen Brexit (mehrheit-
lich dafür und je radikaler, desto besser) und
der Haltung des Parlaments zum Brexit (mehr-
heitlich dagegen, und ein harter Brexit gilt als
absolut hoffnungslos). Nur Neuwahlen kön-
nen eine Lösung bringen, aber wie kann Boris

Wie Trump ist auch
er fest entschlossen,
«den Sumpf
trockenzulegen».

Berater Cummings.

Aus dem Englischen von Matthias Fienbork
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