Die Weltwoche - 08.08.2019

(Ben Green) #1

32 Weltwoche Nr. 32.19
Bild: Pascal Mora (Keystone)


Dass Tobias Straumann eine unbekannte Ge­
schichte erzählt, lässt sich nicht behaupten.
Sein neues Buch behandelt die Finanzkrise
von 1931, die Deutschland in der Rezession traf
und in die Depression führte. Der Klappentext
verrät es: «Der finanzielle Zusammenbruch
Deutschlands im Sommer 1931 war eine der
grössten wirtschaftlichen Katastrophen der
Neuzeit.» Eineinhalb Jahre später übernahm
Adolf Hitler die Macht im Land und verwan­
delte die Weimarer Republik in einen diktato­
rischen Führerstaat. Man kann sich ausmalen,
wie viel Literatur es darüber gibt.
Nun also präsentiert mit Strau­
mann ein Wirtschaftshistoriker
aus der Schweiz seine Sicht der
Dinge: «1931 – Debt, Crisis, and
the Rise of Hitler», erschienen bei
Oxford University Press. Ernst­
gemeinte Frage: Braucht es ein
weiteres Buch über den Aufstieg
der Nazis? Ist dazu nicht alles ge­
sagt, nur nicht von allen?
An der Zürichbergstrasse, im
Institut für Volkswirtschaftslehre,
empfängt Straumann in seinem
Büro zum Gespräch. Ein Büchergestell, ein
Stehpult, ein kleiner Tisch und ein Rudergerät
möblieren den Raum, der damit schon gut aus­
gefüllt ist. Straumann ist ein unprätentiöser
Mann. Nachdem er sich einen Kaffee in der
Institutsküche geholt hat, erklärt er, es sei
nicht völlig neu, was er in «1931» schreibe. «Ich
sage nicht, das Buch sei originell.» Seine Leis­
tung bestehe darin, Politik­ und Wirtschafts­
geschichte miteinander zu verweben, eine
Synthese zu erarbeiten, wie es sie bislang nicht
gegeben hat. «Die Finanzkrise von 1931 bildet
in der Politikgeschichte meist nur ein Hinter­
grundrauschen», sagt Straumann. «Aber sie
war eben nicht einfach eine weitere Etappe,
eine Stromschnelle im Fluss, die Deutschland
schneller dem Abgrund zutrieb. Sie war eine
Zäsur, ein Wasserfall.»


«Von fast biblischem Ausmass»


Sein Buch gliedert sich in drei Teile – «Zuver­
sicht», «Unentschlossenheit», «Verzweiflung»



  • und umfasst die Zeitspanne von Januar 1930
    bis Juli 1931. Es beginnt mit dem Young­Plan,
    der die Weltkriegsreparationen des Deutschen
    Reiches auf Basis des Versailler Vertrags neu
    regelte, und endet mit dem Kollaps des deut­
    schen Finanzsystems. Die Sparer kamen nicht
    mehr an ihre Guthaben, die Zentralbank


musste den Goldstandard aufgeben, und die
Regierung konnte ihre Schulden nicht länger
bedienen. Nachdem die Politik immer versi­
chert hatte, sie habe alles im Griff, war der Ver­
trauensverlust nun komplett. «Es ist eine Ge­
schichte von fast biblischem Ausmass, die
zeigt, wie schnell eine Situation, die auf den
ersten Blick beherrschbar erscheint, ausser
Kontrolle geraten kann», schreibt Straumann
im Vorwort. Das Buch­Cover zeigt eine Men­
schenmenge, die im Juli 1931 vor einer ge­
schlossenen Bank steht. Im Hintergrund, über
den Köpfen der Leute, erhebt sich
Hitler und blickt finster ent­
schlossen in die Ferne.
Hitler war der grosse Gewinner
der Krise. Seine Partei, die NSDAP,
konnte ihren Wähleranteil in der
Reichstagswahl ein Jahr später
auf 37,4 Prozent verdoppeln.
«Wer sich mit dieser Zeit beschäf­
tigt, muss sich fragen: Warum
stieg dieser Mann auf?», sagt
Straumann. Er erzählt, wie die
Nazis, bevor sie an die Macht
kamen, ihre Politik nach Um­
fragen ausrichteten. Als sie merkten, dass
blanker Antisemitismus die Massen nicht
mobilisierte, kritisierten sie vor allem den
Young­Plan. Das ist so weit bekannt, wie Strau­
mann einräumt, trotzdem sei es ihm plötzlich
wie Schuppen von den Augen gefallen: «Hitler
war die Alternative. Er hat im wichtigsten
Punkt leider recht bekommen: dass Deutsch­
land mit dem Young­Plan immer tiefer in die
Wirtschaftskrise schlittere. Und wenn man
diese politikgeschichtliche Erkenntnis mit
wirtschaftsgeschichtlichen koppelt, versteht
man, wie gefährlich die Schuldenfalle war.»
Tatsächlich geht es in «1931» vor allem um
«Debt», also um das erste Schlagwort des Un­
tertitels, mag auch das Cover die Aufmerksam­
keit auf «Crisis» und «Rise of Hitler» lenken.
Straumann zeigt, wie die Gläubiger, vor allem
die USA, Grossbritannien und Frankreich, das
deutsche Schuldenproblem lange vernachläs­
sigten und dann, als sie merkten, dass sie han­
deln mussten, aus innenpolitischen Zwängen
keinen Ausweg aus der Krise fanden. Ein Wort,
das Straumann im Gespräch mehrmals
braucht, ist «Pfadabhängigkeit». Es bedeutet,
dass gewisse Entscheidungen kaum mehr
rückgängig zu machen sind. Die damaligen
Politiker, die bis heute oft als Sündenböcke
herhalten müssen, nimmt er trotzdem eher in

Schutz: «Sie waren gefangen in einem dys­
funktionalen System und hatten weniger
Spielraum, als man gemeinhin glaubt.» Hein­
rich Brüning, den vielgescholtenen deutschen
Kanzler der Krisenzeit, bezeichnet er als
«gewissenhaft» und «ökonomisch infor­
miert». Er habe zwar Fehler gemacht, «war
aber eher eine tragische Figur als ein vorsätzli­
cher Totengräber der Weimarer Republik».

Kassandra und Sisyphus
«1931» lebt auch von den Porträtskizzen, die
Straumann geschickt zwischen eher techni­
sche Passagen legt. Er widmet sich dabei nicht
nur berühmten Staatsmännern, sondern auch
Akteuren und Beobachtern, die weniger be­
kannt sind, aber die Krisenzeit ebenso symbo­
lisch verkörpern. Dazu zählt Felix Somary, der
«Rabe von Zürich», ein Bankier und Analyst,
der früh schon vor dem aufziehenden Sturm
warnte und in diesem Stück die Rolle der
Kassandra spielt. Als Sisyphus tritt Hans Schäf­
fer auf, der als Staatssekretär im deutschen
Finanzministerium «heroisch, aber letztlich
erfolglos» versuchte, die Katastrophe abzu­
wenden und seine grossen Pläne nur im Tage­
buch entfalten konnte. All das, ökonomische
Analysen, menschliche Dramen, behandelt
Straumann auf wenig mehr als 200 Seiten, was
sein Buch dicht und leicht zugleich macht.
«Ich wollte ein trade book schreiben, kein akade­
misches», sagt er. «Ich habe genügend Bücher
geschrieben, die fast niemand liest.»
Über zu wenig Aufmerksamkeit kann er sich
dieser Tage nicht beklagen. Anfang Juli stand in
der Financial Times: «Wenn John Kenneth Gal­
braith mit seinem klassischen Bericht von 1955
den Absturz von 1929 für immer ins historische
Bewusstsein riss, hat Straumann uns die Erzäh­
lung von 1931 gegeben, die jeder Entschei­
dungsträger in Europa lesen sollte. Man kann
nur bedauern, dass diese Geschichte nicht
schon vor zehn Jahren verfügbar war» – also vor
der Euro­Krise, die 2010 ausbrach. Der Autor
dieser Zeilen ist Adam Tooze. Er lehrt Wirt­
schaftsgeschichte an der Columbia University
in New York und gilt als Koryphäe seines Fachs.
Welches Gewicht seinem Urteil zukommt,
zeigt ein Beispiel von 2005: Tooze kritisierte
damals «Hitlers Volksstaat» von Götz Aly und
löste damit in Deutschland eine heftige Fach­
debatte aus, wie sie nur alle paar Jahre einmal
vorkommt.
Über «1931» äussert Tooze sich fast uneinge­
schränkt positiv. So vergleicht er das Buch

Autor Straumann.

Welt am Abgrund

Das neue Buch des Zürcher Wirtschaftshistorikers Tobias Straumann wird in der Fachwelt bereits


als möglicher Klassiker gehandelt. Es erklärt die deutsche Finanzkrise von 1931, liest sich wie ein


historischer Roman und bereichert die Debatten der Gegenwart. Von Erik Ebneter

Free download pdf