Die Weltwoche - 08.08.2019

(Ben Green) #1

Weltwoche Nr. 32.19 37
Bild: Scherl (Süddeutsche Zeitung Photo, Keystone)


val, beim Schleswig-Holstein-Musik-Festival,
in der Berliner Staatsoper oder schlicht zu
Hause in der guten Stube ihrer Datsche in
Hohenwalde?


Tuschelthemen und Malheurchen


Es befremdet, dass die deutschen «Leitmedien»
Merkels bizarre Reverenz vor dem Judenhasser
Richard Wagner mit keinem Wort thematisie-
ren. «Tuschelthema» sind allenfalls die Kleider
der Kanzlerin («Sie trägt gerne ihre alten Sa-
chen auf») und «Malheurchen» wie Schweiss-
flecken oder «Feinstrumpfsöckchen». Zwar
echauffiert sich die Bild-Zeitung heuer unter
der Schlagzeile «Kultur ist Haltung» über den
homophoben «Tannhäuser»-Premierendiri-
genten Valery Gergiev, einen Intimfreund und
Bewunderer Wladimir Putins: «Warum ap-
plaudieren unsere Spitzenpolitiker einem


Schwulenhasser?» Dass aber die «Elite der
deutschen Politik» alljährlich einem Antisemi-
ten applaudiert, scheint niemanden zu stören.
Die deutschen Medien haben offensichtlich das
Dekret der Familie Wagner voll und ganz verin-
nerlicht, die anlässlich der Wiederaufnahme
der Bayreuther Festspiele 1951 im Programm-
heft Publikum und Presse anwies, «von Gesprä-
chen und Debatten politischer Art auf dem
Festspielhügel freundlichst absehen zu wollen.
Hier gilt’s der Kunst.»
«Kindermund tut Wahrheit kund»: Es
braucht wohl das feine, unbestechliche Sensori-
um eines Kindes, um die Thematik instinktiv
richtig einzuordnen. So schreibt die Schülerin
Bianca Mörsch am 5. März 2015 an die Kanzle-
rin: «Sehr geehrte Frau Kanzlerin, ich würde
Ihnen gerne eine Frage stellen: Im Musikunter-
richt sprechen wir gerade über Richard Wagner
und dass er Antisemit war. Wir haben erfahren,
dass Sie zu den Wagner-Festspielen gehen, und
nun möchte ich wissen: Warum? Warum geht
unsere Bundeskanzlerin zu Festspielen, auf de-
nen Musik eines Komponisten gespielt wird,
der unter anderem dafür bekannt ist, Antisemit
zu sein? Weil Sie seine Musik mögen? Und den-
ken Sie, dass man einen Künstler von seiner
Kunst trennen kann?» Bianca Mörschs Frage,
aufgeschaltet auf der Website Direktzurkanzle-
rin.de, blieb bis zur Einstellung der Seite im
April letzten Jahres unbeantwortet.


Deutschtümelnde Elite


Fühlt man in dieser Frage die Temperatur der
intellektuellen Elite der Republik, sieht man
sich konfrontiert mit einer Mischung aus vor-
nehmer Zurückhaltung und jener befremdli-
chen «Deutschtümelei», die der Literaturkriti-
ker und Wagner-Fan Marcel Reich-Ranicki mit


Wagner assoziierte. «Jetzt lassen Sie doch die
Kanzlerin ein bisschen Musik hören!», knurrt
ein launiger Götz Aly ins Telefon. Ausserdem sei
sowieso Merkels Ehemann Joachim Sauer der ei-
gentliche Wagnerianer, so der renommierte His-
toriker und Autor («Hitlers Volksstaat», «War-
um die Deutschen? Warum die Juden?»). Auch
der Publizist und Historiker Michael Wolffs-
ohn, normalerweise nicht um ein konfrontati-
ves Statement verlegen, wiegelt ab.
«Merkel und Co» stünden vor «knallharten
Problemen», weshalb die «L’art-pour-l-art-
Welt» der Kanzlerin und ihre «Wagnerei» mo-
mentan «nebengleisig» sei. Sylvia Krauss-
Meyl, die ehemalige Archivdirektorin des
Bayerischen Hauptstaatsarchivs in München,
wo sie die Nachlässe der Wagner- Enkel Wolf-
gang und Wieland auswertete, plädiert wäh-
rend eines längeren Telefonats, das sei doch
«alles schon so lange her» und man könne der
Kanzlerin aufgrund ihrer Liebe zu Wagners
Musik «nun wirklich keinen Strick drehen».
Sven Felix Kellerhoff, leitender Redaktor für
Zeit- und Kulturgeschichte in der Welt, würde
es gar als «missbräuchlich» werten, Merkel ih-
re Wagner-Liebe vorzuwerfen. Die Leiterin der
KZ-Gedenkstätte Dachau, Gabriele Hammer-
mann, «möchte zu diesem Thema keinen
Kommentar abgeben», was angesichts der mil-
lionenschweren Zuschüsse des Bundes ver-
ständlich ist. Der leitende Kulturredaktor des
Nordbayerischen Kuriers, Michael Weiser, zustän-
dig für die Berichterstattung aus Bayreuth,
hängt entnervt das Telefon auf.

«Geistige Wahlverwandtschaft»
Doch es gibt auch andere Stimmen. Als
«ignorant und respektlos der jüdischen Min-
derheit gegenüber» empfindet der Politikwis-

senschaftler und Antisemitismusforscher
Matthias Küntzel Merkels Bayreuth-Besuche.
Zudem fordert er die Freigabe des extensiven
Briefwechsels von Winifred Wagner und ihren
Söhnen Wieland und Wolfgang mit Adolf Hit-
ler («Onkel Wolf»), welcher der Öffentlichkeit
und Historikern seit Jahrzehnten vorenthalten
wird. Die Briefe befinden sich im Besitz von
Winifreds jüngster Tochter Verena, die 1943 den
SS- Obersturmbannführer und Leiter der
NS-Organisation Kraft durch Freude, Bodo
Lafferentz, heiratete. Solange diese Dokumente
unter Verschluss gehalten würden, seien die
millionenhohen Bundeszuschüsse für Bay-
reuth einzustellen. Die Literaturwissenschaft-
lerin und Merkel-Kritikerin Gertrud Höhler
(«Die Patin: Wie Angela Merkel Deutschland
umbaut») nimmt Merkels Wallfahrten als
«staatlich sanktionierte Aussetzung der deut-
schen Erinnerungskultur» wahr.
Noch härter geht der Schriftsteller Michael
Klonovsky mit der Kanzlerin ins Gericht. Der
AfD-nahe Autor sieht die Verehrung von
Richard Wagner durch Hitler und Merkel als
«geistige Wahlverwandtschaft der beiden
eigenschaftslosesten deutschen Staatsführer»:
«Der eine, Hitler, setzte das von ihm be-
herrschte juvenile Volk in Marsch, die halbe
Welt zu überrennen, die andere, Merkel, ruft
die halbe Welt herbei, das von ihr regierte
greise Volk zu überrennen; der eine ruinierte
Deutschland durch eine ausser Rand und Band
geratene Inhumanität, die andere ist dabei,
Deutschland durch eine ausser Rand und Band
geratende Humanität zu ruinieren. Beiden
Hauptakteuren gemeinsam indes ist der stur-
heile Marsch in den Kollaps, das triumphie-
rend widervernünftige, gegen jedes Mass, ge-
gen alle Tradition und alle Vernunft gerufene:

Scheint niemanden zu stören: Hitler mit Wagner-Enkelinnen Verena (l.), Friedelind, Bayreuth ca. 1936.

Die Bundeskanzlerin besuche


Bayreuth «grundsätzlich als


Privatperson».

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