Die Weltwoche - 08.08.2019

(Ben Green) #1
40 Weltwoche Nr. 32.19
Illustration: Tim O’Brien, Bild: zVg

B


ei der Wahl des EU-Parlaments haben die
Stimmbürger dem Bündnis der beiden
grossen Fraktionen die Mehrheit entzogen.
An der zentralistischen Tendenz des Parla-
ments wird das aber nichts ändern. Die meis-
ten Abgeordneten sind daran interessiert, der
EU mehr Macht zu verleihen. Zum einen steigt
dadurch ihr eigener Einfluss. Zum anderen ha-
ben sich auch innerhalb der Parteien vor allem
diejenigen um ein Mandat beworben, die die
Politik in Europa zentralisieren wollen. Denn
es ist attraktiver, im Rahmen der Parlaments-
mehrheit eine Europapolitik zu gestalten, als
Tag für Tag in der Minderheit zu sein. Das ist
die sogenannte Selbstselektion. Machtstreben
und Selbstselektion erklären auch, weshalb
die meisten Kommissare und Richter der EU
das Geschäft der Zentralisierung betreiben.
Dass die EU-Parlamentarier andere Zielvor-
stellungen als die Bürger haben, belegen ver-
schiedene Parallelumfragen, die gleichzeitig
unter den Abgeordneten und den Bürgern
durchgeführt wurden. In der European Repre-
sentation Study sollten die Befragten zum Bei-
spiel sagen, ob die politischen Entscheidungen
in den drei wichtigsten Themenbereichen auf
europäischer, nationaler oder regionaler Ebene
zu treffen seien. Die europäische Ebene wurde
von einer Minderheit der Bürger (42 Prozent),
aber von einer Mehrheit der EU-Parlamentarier
(54 Prozent) bevorzugt. Im European Elite Sur-
vey wurde gefragt, ob «die Europäische Union
ihre militärische Organisation verstärken soll,
um eine grössere Rolle in der Welt spielen zu
können». Mit Ja antworteten 46 Prozent der
Bürger, hingegen 65 Prozent der EU-Parlamen-
tarier und der Spitzenbeamten der Kommis-
sion. Aufschlussreich ist auch eine Parallelum-
frage von Gallup mit der Frage: «Glauben Sie,
dass die EU-Mitgliedschaft Ihrem Land nützt?»
Bei den Bürgern betrug die Zustimmung 43
Prozent, aber 90 Prozent bei den europäischen
und nationalen Parlamentariern. Es ist bezeich-
nend, dass Eurobarometer – das Meinungsfor-
schungsinstitut der EU-Kommission – keine
Parallelumfragen durchführt oder zumindest
nicht darüber berichtet.
Die EU-Richter beteiligen sich natürlich
nicht an Meinungsumfragen. Aber der Ge-
richtshof der EU gilt allgemein als «Motor der
Integration». In 69 Prozent der Fälle entschei-
det er zugunsten der Kommission und gegen

die Mitgliedstaaten. Noch nie hat er gegen
andere EU-Institutionen entschieden, wenn
diesen Kompetenzüberschreitungen vorge-
worfen wurden.
Kurz: Die europäischen Institutionen reprä-
sentieren nicht die Bürger. Sie sind eine Inter-
essengruppe.
Kritisiert man die atemberaubende Zentrali-
sierungsdynamik, die sich seit etwa 1990 in der
EU abspielt, so wird man auf das Subsidiaritäts-

prinzip verwiesen, das doch zur Bewahrung
dezentraler Strukturen in den Verträgen veran-
kert sei und folglich beachtet werde. Aber das
Subsidiaritätsprinzip ist nur eine Beweislast-
regel: Wer zentralisieren will, muss dafür ein-
fach eine Begründung geben. Das fällt denen,
die an Zentralisierung interessiert sind, nicht

schwer. Irgendeinen Grund kann man immer
nennen. Wer aber beurteilt die Stichhaltigkeit
der Begründung? Wenn man das Subsidiari-
tätsprinzip ernst nimmt, dürften es nicht die
sein, die aus eigennützigen Gründen an der po-
litischen Zentralisierung Europas interessiert
sind. Dieser Grundsatz ist in der EU verletzt.

Mehr Steuern, mehr Regulierung
An der Gesetzgebung der EU sind die Kom-
mission, das Parlament, der Rat und im Rah-
men der Normenkontrolle der Gerichtshof be-
teiligt. Zwar sitzen im Rat die Minister oder
Ministerialbeamten der Mitgliedstaaten. Aber
auch sie haben laut Parallelumfrage von
Gallup eine viel positivere Meinung von der
EU als die Bürger: 92 Prozent der Ministerial-
beamten meinen, dass die Mitgliedschaft in
der EU ihrem Land nütze. Sie reisen gerne
nach Brüssel und können dort manchmal Pro-
jekte durchsetzen, die zu Hause auf unüber-
windlichen Widerstand stossen würden. Auch
für die im Rat versammelten Minister ist es oft

Der Gerichtshof der EU entscheidet
meistens für die Kommission und
gegen die Mitgliedstaaten.

Die Bürger haben andere Zielvorstellungen.

EU


Klub der gegenseitigen Behinderung


Ist nach der Wahl des neuen Parlaments zu erwarten, dass die
Europäische Union mehr Rücksicht auf die Bürger nehmen wird?
Wohl kaum. Die Brüsseler Institutionen und Spielregeln sind
grundsätzlich auf Zentralisierung und das Erzwingen von
Harmonisierung angelegt. Von Roland Vaubel
Free download pdf