Die Weltwoche - 08.08.2019

(Ben Green) #1

Weltwoche Nr. 32.19 41


leichter, gemeinsam vorzugehen, um Abgaben
zu erhöhen oder neue Vorschriften zu erlassen.
Würde eine Regierung im Alleingang vorpre-
schen, müsste sie heftige Wählerproteste sowie
die Abwanderung von Kapital und mobilen
Leistungsträgern befürchten. Als internatio-
nales Politikerkartell organisiert, fällt es ihnen
leichter, die Freiheit der Bürger zu beschränken.
Können die nationalen Parlamente dage-
genhalten? Seit dem Vertrag von Lissabon
(2009) können sie von der Kommission die
Überprüfung eines von ihr vorgelegten Geset-
zesentwurfs verlangen, mit dem Argument,
dass dieser gegen das Subsidiaritätsprinzip
verstosse. Aber die Kommission darf trotzdem
an ihrem Entwurf festhalten. Sie braucht dies
lediglich zu begründen. Wenn Rat und Parla-
ment der EU den Kommissionsvorschlag an-
nehmen, bleibt den nationalen Parlamenten
nur der Weg zum Gerichtshof – und dieser ver-
spricht keinen Erfolg.
Im Rat der EU werden nicht nur gemein-
schaftlich Politikerkartelle zu Lasten der Bür-
ger geschmiedet, sondern auch Mehrheits-
entscheidungen zu Lasten von Minderheiten
getroffen. Denn seit 1987 genügt auf immer
mehr Politikfeldern eine qualifizierte Mehr-
heit der Ratsstimmen. Damit hat die Mehrheit
der besonders hochbesteuerten und besonders
restriktiv regulierten Länder die Möglichkeit,
ihre Steuersätze und Vorschriften der Minder-
heit der liberaleren Länder aufzuzwingen. In
der Ökonomie wird dies als «Strategy of
Raising Rivals’ Costs» bezeichnet. Eine mehr-
heitlich beschlossene Vereinheitlichung un-
terdrückt den politischen Wettbewerb um
niedrige Steuern und Deregulierung und
verstärkt so Besteuerung und Regulierung in
allen Mitgliedstaaten.
Hauptopfer dieser Strategie wurde Gross-
britannien, was unter anderem den britischen
Austrittswunsch erklärt.
Mit den Arbeitsmarktregulierungen fing es
an. 1987 wurde der EWG-Vertrag dahingehend
geändert, dass der Rat mit qualifizierter Mehr-
heit einheitliche Vorschriften für die Gesund-
heit und Sicherheit am Arbeitsplatz erlassen
darf. Das nahm Brüssel zum Anlass, die Arbeits-
zeit in allen Mitgliedstaaten einheitlich zu be-
schränken, obwohl doch der Wunsch nach Frei-
zeit vom Einkommen abhängt und dieses von
Land zu Land sehr verschieden ist. Die Briten
fühlten sich betrogen und klagten beim EU-Ge-
richtshof, aber dieser hielt an der Arbeits-
zeitrichtlinie fest. Auch den EU-Richtlinien
über die Arbeit auf Schiffen (1993), über die Mit-
bestimmung der Arbeitnehmer (1994) und über
die Arbeitsausrüstung (1995) verweigerte die
britische Regierung ihre Zustimmung.
Als glatten Vertrauensbruch betrachten die
Briten die EU-Finanzmarktregulierung, die
sich ja auch auf die City of London erstreckt.
Die EU beruft sich dabei auf eine weitere Ver-
tragsänderung von 1987. Der neue Artikel


100a sah vor, dass der Rat «mit qualifizierter
Mehrheit die Massnahmen zur Angleichung
der Rechts- und Verwaltungsvorschriften»-
beschliessen dürfe, «die die Einrichtung und
das Funktionieren des Binnenmarkts zum
Gegenstand haben». Der Binnenmarkt wurde
definiert als ein «Raum ohne Binnengrenzen,
in dem der freie Verkehr von Waren, Per-
sonen, Dienstleistungen und Kapital [.. .] ge-
währleistet ist».

«Ist es auch Tollheit, so hat es doch Methode»
Da der freie Kapitalverkehr durchaus mit in-
ternationalen Unterschieden in der Finanz-
marktregulierung vereinbar ist, erlaubte dies
noch keine Mehrheitsentscheidungen über
eine EU-weite Regulierung der Finanzmärkte.
Aber schon 1989 änderte der Gerichtshof – in
seiner Titandioxid-Entscheidung – die Defini-
tion des Binnenmarktes: Voraussetzung für
einen Binnenmarkt seien «unverzerrte
Wettbewerbsbedingungen». Damit durfte der
Rat plötzlich mit qualifizierter Mehrheit alle
Rechts- und Verwaltungsvorschriften verein-
heitlichen, die sich auf die Wettbewerbsfähig-
keit auswirken können – also fast alle, auch die
Finanzmarktregulierungen.
Der erste Schritt war die Richtlinie für Fi-
nanzdienstleistungen, die 2003 gegen die
Stimmen Grossbritanniens, Luxemburgs und
anderer Mitgliedstaaten beschlossen wurde.
2009 fand die Binnenmarkt-Definition des
Gerichtshofs Eingang in ein Protokoll des
Lissabon-Vertrags. 2010 errichtete die EU auf
Drängen Frankreichs, aber gegen den Wider-
stand Grossbritanniens drei Behörden zur Re-
gulierung der Finanzmärkte – darunter das
Europäische Bankenaufsichtsamt (EBA). Nach
Artikel 18 der EBA-Verordnung ist die EU-
Behörde befugt, den nationalen Aufsichtsäm-
tern Weisungen zu erteilen und jede beliebige
Bank zu schliessen – auch in London. Zu den
drei Behörden gehört weiters die Wertpapier-
aufsicht Esma in Paris. Im Fall Esma klagte die
britische Regierung wegen fehlender Rechts-
grundlage beim Gerichtshof der EU, wurde
aber abgewiesen, obwohl der finnische Gene-
ralanwalt den Briten recht gegeben hatte.
Zurzeit versucht Frankreich, seine Steuer
auf Aktienkäufe unter dem Etikett «Fi-
nanztransaktionssteuer» auf die gesamte
Eurozone auszudehnen. Ausserdem fordert
Paris, dass der Rat der EU nicht mehr einstim-
mig, sondern mit qualifizierter Mehrheit über
die Angleichung der Steuern entscheiden soll.
Damit könnte das Hochsteuerland Frankreich
die Steuern in den Niedrigsteuerländern der
EU erhöhen. Die Strategy of Raising Rivals’
Costs ist hochaktuell – um es mit Hamlet zu
sagen: «Ist es auch Tollheit, so hat es doch Me-
thode.»
Roland Vaubel ist emeritierter Professor für
Volkswirtschaftslehre und politische Ökonomie
an der Universität Mannheim.

Inside Washington


Wahrheitssuche


Politischer Streit nach
den Attentaten von Texas
und Ohio.

P


ressevertreter, was zum Teufel?» Dem
demokratischen Präsidentschaftskan-
didaten Beto O’Rourke geht das Massaker
am Wochenende in seiner texanischen Hei-
matstadt mit über zwanzig unschuldigen
Opfern persönlich nahe. Der Schuldige ist
für ihn klar: Donald J. Trump. «Jeder weiss,
welchen Unsinn der verbreitet!» So geisselte
O’Rourke die Rhetorik des Präsidenten vor
Reportern. Auch Hunter Pollack gehen die
Attentate von El Paso und Dayton, Ohio, na-
he. Seine jüngere Schwester wurde letztes
Jahr beim Massaker der Marjory Stoneman
Douglas High School in Parkland, Florida,
erschossen. Auf Fox News erklärte der sicht-
lich wütende 22-Jährige: «Ich war nie ein
poli tischer Mensch, bis meine Schwester in
Parkland ermordet wurde. Dann wollte ich
wissen, was passiert ist, wie es passiert ist
und warum es passiert ist. Es dünkt mich,
die Suche nach Fakten gelte heute als
konser vativ.» Er fügte hinzu: «Die Linke
kritisiert einfach alles, was keine Waffen-
kontrolle ist... Ich habe die Nase voll.»
Es scheint, dass der Verdächtige von El Pa-
so kurz vor dem Anschlag ein Manifest mit
dem Titel «Eine unbequeme Wahrheit» ver-
öffentlicht hat. Der Titel erinnert an den
2006 mit einem Oscar ausgezeichneten Do-
kumentarfilm über den Klimawandel des
früheren Vizepräsidenten Al Gore. Das Ma-
nifest des Täters ist eine kranke Mischung
aus weissem Nationalismus, Anti-Unter-
nehmertum und Umweltalarm: «Erst wenn
wir genug Menschen loswerden, kann un-
sere Lebensweise nachhaltiger sein.»
Forscher der Harvard University haben
zwischen 2011 und 2014 während der
Obama- Regierung eine Verdreifachung der
Anschläge gezählt. Laut dem früheren nati-
onalen FBI-Sprecher John Iannarelli lagen
die Zahlen seit Trumps Wahl «tatsächlich
viel geringer als in den Vorjahren».
Die Amerikaner wollen endlich die Fakten
kennen. Amy Holmes
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