Die Weltwoche - 08.08.2019

(Ben Green) #1

52 Weltwoche Nr. 32.19
Bilder: Henryk Michaluk, Rico Bandle, youTube


über den Weg: Rock-Schamane Chris von Rohr
schlendert über das Gelände. Er trägt bereits
sein Bühnenoutfit, eine schwarze Bluse, bis
zum Bauchnabel geöffnet, mit einem braunen
Schal über der Schulter. Krokus wird um sieb-
zehn Uhr auf der Hauptbühne auftreten.
Sänger Marc Storace, neuerdings mit Bart,
wirkt etwas geistesabwesend. Ein Begleiter
folgt ihm sogar zur Toilette, damit er sicher
rechtzeitig zurückfindet. Auch für die erfolg-
reichste Schweizer Rockband ist Wacken eine
grosse Angelegenheit. Man sei schon einen
Tag vorher angereist, um dieses legendäre Fes-
tival zu geniessen.
Ich verlasse das «Artist Village». Sich auf
dem riesigen Gelände zurechtzufinden, ist gar
nicht so einfach. Allein der Caravan-Platz für
die Tausenden von Mitarbeitern und Helfern
ist wie eine Stadt für sich. Das Campingareal
für die Besucher erstreckt sich, so weit das
Auge reicht – Zelte, Wohnmobile und Autos.
In Wacken darf man tatsächlich mit dem Auto
auf den Campingplatz fahren. Manche Besu-
cher haben Stromgeneratoren mitgebracht, so
dass die Party nach dem letzten Konzert volle
Dröhnung weitergehen kann. Wie da jemand
schlafen kann, bleibt rätselhaft – aber zum
Schlafen kommt auch niemand her.
Die Organisation ist gewaltig: 220 Bands rei-
sen mit eigenem Material an. Alles muss zur
richtigen Zeit auf der richtigen der acht Büh-
nen stehen – eine logistische Meisterleistung.
Die 75 000 Besucher müssen versorgt, die sani-
tären Anlagen in Betrieb sein, und die Sicher-
heit muss gewährleistet sein. Alles funktio-
niert perfekt, jedes Konzert beginnt pünktlich
auf die Minute. Die ganze Region sei in das
Festival involviert, sagt ein Feuerwehrmann.
Wacken ist ein Vorzeigebeispiel deutscher
Gründlichkeit und Perfektion. Die Besucher


steuern das Ihre bei. Die harten Kerle und die
ebenso harten Damen bilden das friedfertigste
Volk, das man sich vorstellen kann. Alles
höchst freundliche und zuvorkommende
Menschen. Unter den Metalheads, so nennen
sich die Heavy-Metal-Fans, herrscht ein starkes
Zusammengehörigkeitsgefühl. Die Aggression
wird in der Musik ausgelassen, nirgends sonst.
Selbst am nächsten Tag, als mitten im Konzert
der Schweizer Folk-Metal-Band Eluveitie das
ganze Gelände wegen einer Sturmwarnung
evakuiert werden muss, verläuft alles rei-
bungslos. Zehntausende von Rockern halten
sich genau an die Anweisungen und verlassen
in aller Ruhe das Areal.
Punkt siebzehn Uhr fällt der Vorhang für
Krokus auf der Hauptbühne. In den vorders-
ten Reihen stehen viele Schweizer. Einige
haben eine Schweizer Fahne mitgebracht,
schliesslich ist 1.  August, Nationalfeiertag. Die
Band aus Solothurn braucht etwas Anlaufzeit.
Die Voraussetzungen sind nicht einfach: Die
Sonne prallt mit voller Wucht auf das Gelände,
es ist heiss, die Lichtshow geht im Sonnenlicht
unter. Zudem wird der schmissige Partyrock
von Krokus nicht von allen gleichermassen
goutiert. Bei dem Festival steht härtere, düste-
rere Musik im Zentrum. Trotzdem, die Stim-
mung hebt sich von Song zu Song. Als die
Band voll in Fahrt ist und mit dem Dylan-
Klassiker «Mighty Quinn» die Massen hinter
sich hat, ist das Konzert schon fertig.
Chris von Rohr wirkt nach dem Konzert
zufrieden, aber nicht euphorisch. Er schaut
bereits nach vorne. Krokus laufe es so gut wie
nie, erzählt er. Eine Amerika-Tour stehe bevor,
die Band erhalte Auftrittsanfragen aus aller
Welt. «Es ist, als gehe es erst richtig los.»
Derweil warten die Musiker von Triumph of
Death auf ihren Auftritt, der um Mitternacht

im Zelt angesetzt ist. Einem Zelt notabene, das
fast so gross ist wie das Zürcher Hallenstadion.
Erst fünf Mal hat die Band in dieser Formation
vor Publikum gespielt. «Eigentlich haben wir
zu wenig geprobt», sagt Fischer.

Verwandlung zu Bühnenmonstern
Mittlerweile sind auch die fünf Roadies einge-
troffen, darunter zwei Gitarren- und ein
Basstechniker, die ausschliesslich für Wartung
und Instandhaltung der elektrischen Saiten-
instrumente zuständig sind. Etwa um 22 Uhr
begeben sich die Musiker in den Garderoben-
Container und verwandeln sich zu düsteren
Bühnenmonstern. Bei Tom Gabriel Warrior
laufen wie immer dicke schwarze Tränen die

Ankunft in Wacken: Tourbus mit Schlafabteil.

Vorzeigebeispiel deutscher Gründlichkeit und Präzision: Festivalgelände in Wacken bei Hamburg. Auftrittbereit: Musiker von Rohr und Mathieu.

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