Die Weltwoche - 08.08.2019

(Ben Green) #1
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Ein Teil Ihrer Erziehung?
Nicht wirklich. Meine Eltern haben mir zwar
viel erklärt, mich aber immer selber denken
lassen und mir voll vertraut. Ich durfte schon
mit etwa zwölf in Sitten um die Häuser zie-
hen. Wir gingen tanzen, haben geraucht und
getrunken – Wodka und Gin und Tonic.
Wann mussten Sie zu Hause sein?
(Lacht) Das weiss ich nicht mehr. Ich war aber
immer pünktlich, bin dann aber gleich
wieder rausgeschlichen. Solche Regeln habe
ich nie respektiert.
In Brüssel haben Sie dann an der Theater­
schule studiert. Eine Fortsetzung der wil­
den Teenagerjahre?
O ja. Ich lebte in einem riesigen Haus mit vie-
len Bewohnern. Ich entdeckte das Theater auf
einer anderen Ebene, drehte meinen ersten
Film und habe nebenbei in der Oper gearbei-
tet. Ich habe Kinder in Gesang unterrichtet.
Hätten Sie sich vorstellen können, Lehrerin
zu werden?
Ja. Aber mich interessierte so viel, ich hätte
irgendetwas werden können – nur nicht
Metzgerin. Das wäre zu deprimierend, im-
mer die toten Tiere.
Deprimiert Sie der Tod?
Nicht per se. Ich überlege mir schon länger,
was der Sinn des Lebens ist. Wenn aber
irgendwann alles endet, ergibt es für mich
keinen Sinn. Das ist absurd und sinnlos – das
Kinderkriegen, Schauspiel, Schreiben. Ganz
egal, was du machst, es wird sich an der Welt
nie etwas ändern.

Sind Sie eine Pessimistin?
Überhaupt nicht, ich bin sogar sehr optimis-
tisch. Aber sind wir nicht alle ein kleines
Stück Staub im Universum? Das kann man
nicht ändern. Wir sind nichts. Für mich er-
gibt das Hier und Jetzt Sinn, und darum bin
ich verrückt nach dem Leben.
Wenn Sie etwas ändern könnten, was wäre das?
Die Steuergesetze, die würde ich ändern – ja.
Die, die keine Steuern zahlen, würde ich ins
Gefängnis stecken. (Lacht hämisch) For real! Sie
entkommen immer, sind die Reichsten und
nutzen alles aus: Afrika, Indien, die ganze
Gesellschaft.
Zu «Wolkenbruch»: In einem Interview, so
heisst es, reagierten Sie nicht begeistert, als
Sie auf den Film angesprochen wurden.

Weltwoche Nr. 32.19
Bild: DCM Films


zu machen und ohne mich selbst zu res-
pektieren. Zudem gab es Menschen, die
mich nicht richtig behandelten – Regis-
seure, die mich baten, Dinge zu tun, die ich
nicht wollte. Sie missbrauchten ihre
Macht, drohten mir. Ich liess mir das gefal-
len, weil ich geliebt werden wollte.
Sind das die Probleme einer jungen Frau
im Showgeschäft?
Absolut, es ist wirklich, wirklich schwierig.
Wer waren früher Ihre Vorbilder? Welcher
Film begeisterte Sie?
Der Film «Hair» hat mich umgehauen.
George Berger, die Hauptfigur, ist ein
Hippie, unglaublich provokant. Das
Anderssein faszinierte mich, die Margina-
lisierung.
Ich habe Sie mir aufgrund von Fernseh­
interviews und Ihren Rollen als Every­
body’s Darling vorgestellt.
Also jemand, der allen gefällt? Sieh mich
an. (Zeigt auf ihr Outfit, lacht.) Wie jemand
aussieht, heisst gar nichts. Mit Glamour
und roten Teppichen habe ich nicht viel
am Hut und ich gehe vielleicht zweimal
im Jahr an Galaveranstaltungen. Ich nutze
lieber meine Stimme als Schauspielerin.
Mich interessiert nicht das Bild, das man
sieht, sondern was dahintersteckt. Mich
auszudrücken, davon träumte ich schon
als Kind. Mein Glück ist, dass mein Leben
meine Arbeit ist und umgekehrt. Für mich
ist beides dasselbe. Genau das wollte ich,
von interessanten Menschen umgeben
sein, in Paris leben – ich liebe Paris.
Unweit von hier, bei der Place de la Nation,
sah ich gilets jaunes demonstrieren. Als ich
beim Gare du Nord ankam, bettelten
Obdachlose und Migranten. Kann es sein,
dass Sie ein Paris lieben, das seine Roman­
tik verloren hat?
Ich habe nie ein romantisches Paris erlebt.
Mein Paris ist wild, wie eine grosse De-
monstration. Toll, passiert es. In Paris
könnte die Revolution beginnen.
Warum toll?
Wir leben in einer Welt, die grundsätzlich
für alle gleich ist. Aber solange Menschen
wegen ihrer Rasse oder ihres Geschlechts
gefoltert, misshandelt, geschlagen oder
vergewaltigt werden, werde ich nicht zur
Ruhe kommen. Das zeigt sich auch in mei-
ner Kunst, zum Beispiel beim Netflix-Film
«Paris est à nous», den ich mit meinen
Freunden hier in Paris für nur etwa viertau-
send Franken gedreht habe. Wir wollten
zeigen, dass es möglich ist, auch ohne das
grosse Geld. Du brauchst Mut, Stärke, eine
Vision und viel Leidenschaft. Leute, die den
Film gesehen haben, dankten uns dafür.
Was hat Sie derart politisiert?
So denke ich schon, seit ich mich erinnern
kann. Ich war immer an Gesellschaftsfra-
gen interessiert, dem Zusammenleben.

War dieser ein Flop für Sie?
Nein, gar nicht. Ich habe diesen Film sehr
gerne gemacht. Ich liebte Zürich und Joel
Basman, den Hauptdarsteller. Er ist so cool.
Auch die Botschaft, dass du sein kannst, wer
und was immer du willst, ist wunderschön.
Dass du niemanden heiraten sollst, den dir
deine Eltern aussuchen, und selber denken
sollst.
Sie wollten also das starre jüdische Ehe­
prozedere aufbrechen?
Es geht nicht um Juden. Die Message ist viel
allgemeiner. Wenn du etwas tun willst, lass
nicht zu, dass dir andere im Weg stehen.
Und vor allem, wenn es um Liebe geht.
Jeder sollte lieben dürfen, wen immer er
oder sie will.
Was machen Sie, wenn Sie keine Filme
drehen?
Jetzt drehe ich gerade keinen Film. Wann
wieder einer kommt, weiss ich noch nicht.
Ich spiele gerne Tennis mit meinen Mit-
bewohnern. Ich liebe es, zu tanzen, ich tan-
ze fast jeden zweiten Tag. Rock ’n’ Roll oder
zu elektronischer Musik. Ich mag Festivals,
das Paléo in Nyon ist mein liebstes. Und
Lesen.
Was lesen Sie?
«Americanah» von Chimamanda Ngozi
Adichie. Es handelt von einer Frau aus
Nigeria, die zum Studieren in die USA geht.
Dort merkt sie, dass sie schwarz ist, und
spürt die rassistische Stigmatisierung. Das
Krasse ist, dass sie beides ertragen muss:
schwarz und eine Frau zu sein.
Glauben Sie, dass Frauen leiden, weil sie
Frauen sind?
Ja. Wie aber auch Männer darunter leiden,
Männer zu sein, wenn ihnen gesagt wird,
wie ein Mann zu sein hat. Daher glaube ich
nicht an Geschlechter und sehe uns alle als
Menschen.
Erleben Sie diese Pauschalisierung?
Wenn ich auf meine Rolle in «Versailles»
angesprochen werde, geht es immer um die
spektakulären, antiken Kleider. Der Darstel-
ler von König Louis XIV wird dann immer
gefragt: «Wie war es, den König zu spielen?»
Er kann also Auskunft über die Figur geben.
Das ist doch komisch, dass sie mich nie etwas
über das Wesen meiner Figur gefragt haben


  • auch wenn es mir nichts ausmacht, ständig
    über das Kleid zu sprechen.
    Wie sieht Ihre Zukunft aus? Gibt es bald
    einen Blockbuster mit Ihnen?
    Wenn das klappt, sicher. Aber das hängt von
    den Menschen ab, die mich fragen. Ich habe
    keine Ahnung, wohin mein Herz mich trägt.
    Ich lebe Tag für Tag, oder ich versuche es
    zumindest. Ich will glücklich sein, und ich
    mag es, wenn ich Leute dadurch ebenfalls
    glücklich machen kann.
    Sind Sie glücklich?
    Ja, das bin ich.


Joel Basman und Noémie Schmidt in «Wolkenbruch».
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