Die Weltwoche - 08.08.2019

(Ben Green) #1
58 Weltwoche Nr. 32.19

D


as «Opfer» gehört zu den Archetypen der
Religiosität. Nach dem Auszug aus Ägyp-
ten führten die Israeliten einen mobilen Tem-
pel mit Opferaltar mit, dessen Bauplan das
Buch Exodus umfangreich schildert. Das wird
im Buch Leviticus durch präzise Opfervor-
schriften fortgesetzt. Bereits in der Schöpfungs-
geschichte spielen Opferhandlungen eine pro-
minente Rolle: Kain und Abel bringen Gott je
ihr Opfer dar, und der Bruderzwist entzündet
sich daran, dass Gott Abels Opfer annimmt und
Kains Opfer zurückweist (Genesis 4). Auch No-
ah beginnt das neue Leben nach der Sintflut mit
einer Opferhandlung (Genesis 8,20ff).
Ein Seitenblick nach Indien, einem anderen
Brennpunkt früher Religiosität, zeigt, dass
schon vor Gautama Buddha das Opfer im Jah-
reszyklus notwendig war, um die Welt leben-
dig und fruchtbar zu erhalten. Der Glaube,
dass «die Sonne nicht aufgehen würde, bräch-
te nicht der Priester beim Anbruch der Mor-
genröte das Feueropfer dar» (Shatapatha-
Brahmana), verlieh den Brahmanen ihre
Bedeutung und ihre Macht. Der Hinduismus
zeigte sich angesichts der Einwanderungs-
wellen auf den Subkontinent flexibel und
führte zahlreiche Kulte zusammen.

Victima und sacrificium
In Israel dagegen löste die Einführung kana-
anäischer Zeremonien Zerreissproben aus.
Amos, als Hirte und Maulbeerfeigenzüchter
von Gott zum Propheten berufen, wettert nicht
nur gegen soziale Missstände, sondern auch
gegen Tempelprostituierte und Fruchtbar-
keitsrituale in Juda (Amos 5,22-24). An dere
Propheten bekämpften die Opferpraxis gene-
rell. Nie wurde die Naturreligion mit ihren Op-
ferkulten so heftig angegriffen wie in Israel.
Der Opfergedanke beruht auf der Tatsache,
dass der Mensch mehr von anderem Leben
zehrt, als er der Natur und der Allgemeinheit
zurückzugeben vermag. Hier liegt die Quelle
zur Viktimisierung anderer Geschöpfe – und
zugleich zur Verschleierung der wahren Ver-
hältnisse. Die victima ist das geopferte Lebe-
wesen, abgeleitet von der indogermanischen
Wurzel weyk, als heilig aussondern, vergleiche
deutsch «weihen». Das sacrificium bezeichnet
die Handlung, durch die der opfernde Mensch
seine Heiligkeit zurückerlangen will (sacrum
facere). Das Deutsche benennt beides mit dem
Ausdruck Opfer. Er ist vom lateinischen opus
abgeleitet und setzt den Akzent auf das
menschliche Werk.

Im Neuen Testament dient der Opfergedanke
bloss als Gleichnis, um den Tod des ge-
kreuzigten Christus zu deuten. Ein neuer
Opferkult wird nirgends postuliert. Der
Hebräerbrief verneint ausdrücklich die Wirk-
samkeit von Opferhandlungen (Kapitel 9 und
10). Bekanntlich kehrte das Opferbedürfnis
dennoch zurück und verhalf der Kirche zu
ihrer Machtfülle. Die Reformation war nicht
zuletzt ein Protest gegen die Opfer-, Priester-
und Tempelkirche; sie setzte an ihre Stelle die
Rabbiner- und Synagogenkirche. «Der römi-
sche Antichrist und seine Propheten haben
die Welt erfüllt mit der Meinung, die Messe
sei ein Werk, mit dem sich die Priester [.. .]
und die andern Menschen, die am Opfer teil-
nehmen, bei Gott ein Verdienst erwürben»
(Johannes Calvin). Angesichts der heutigen
Säkularisierung erscheint eine solche Debatte
als grotesk.

Schwarzweissmalerei und Doppelmoral
Umso heftiger wuchert in den modernen
Industriegesellschaften der archaische Opfer-
instinkt. Wir verbrennen innert weniger
Generationen fossile Substanzen aus Jahrmil-
lionen. Der Drang nach Wiedergutmachung
wurde zum zentralen Handlungsmotiv und
treibt seltsame Blüten. Die Entsorgungsstel-
len aller Art dienen wohl der Umwelt, aber
noch mehr der menschlichen Seele.
Dass die säkularisierte Gesellschaft ohne
Religion auskäme, ist eine Täuschung. Viel-
mehr fällt sie in archaisch-religiöse Instinkte
zurück, um die Kluft zwischen den Bekennt-
nissen und dem Verhalten zu ertragen. Alle
Umweltkonferenzen ändern nichts daran,
dass sich der Personenflugverkehr seit 1970
verzehnfacht hat und weiterwächst. Rund
14 000 Flugzeuge sind rund um die Uhr
gleichzeitig in der Luft. Das gleiche Bild zeigt
die globale Reisestatistik, obwohl Afrika dar-
an noch kaum beteiligt ist. Trostpflaster für
die Doppelmoral bietet das manichäische
Weltbild: Manche Kategorien – Autofahrer,
multinationale Konzerne, gewisse For-
schungsgebiete, Armeen, Kernkraftwerke –
werden den finsteren Mächten zugeordnet.
Umgekehrt gelten Radfahrer, der öffentliche
Verkehr, NGOs und alternative Energien als
Lichtgestalten für die Weltrettung.

Historische Schuld wiedergutmachen
Das gleiche Muster zeigt sich beim Umgang
mit der Geschichte. Deutschland ist ein an-

schauliches Beispiel. Kaum eine Kultur hat
der Welt so viel geschenkt wie die deutsche.
Und kaum eine Kultur hat die Welt mit
schlimmeren Schrecknissen überzogen als
sie. Die Schande des Völkermords weckt reli-
giöse Urreflexe. Anders übrigens als nach
dem Ersten Weltkrieg, dem eine Flut von
Erinnerungsliteratur folgte, war die literari-
sche Bearbeitung des Kriegserlebens und der
Zerstörungen nach 1945 lange auffällig dünn,
was das Ehepaar Alexander und Margarete
Mitscherlich als «Unfähigkeit zu trauern»
diagnostizierte. Als Erste waren jüdische Au-
toren wie Jean Améry, Ruth Klüger, Imre
Kertész und Elie Wiesel mit Erzählungen so-
wie der Erklärung hervorgetreten, man habe
nach der Befreiung aus den Lagern nicht er-
zählen können, weil es niemanden interes-
siert habe und weil man mit dem Überleben
ausgelastet gewesen sei.
Nach der Ölkrise in den siebziger Jahren
verlor auch das Wirtschaftswunder seine be-
rauschende Wirkung und setzte – mehr in
Westdeutschland als in der DDR – eine Erin-
nerungsflut frei. Daraus ging eine neue Moral
hervor: Kollektive, allen voran das deutsche,
müssen sich erinnern und sich ihrer Schuld
bewusst werden. Die Vermischung von politi-
scher, moralischer und juristischer Schuld
machte es möglich, von einer «Schuld des
Volkes» zu reden. Sie wirkte als Prisma und
zerlegte die Ereignisse in Täter und Opfer.
Durch die Säkularisierung war die christ-
liche Vergebung vom Radar verschwunden,
und die Deutschen konnten sich nur noch
durch gute Werke rehabilitieren: Sozialstaat,
Entwicklungshilfe, Klimarettung, Energie-

wende, Political Correctness, Weltoffenheit,
offene Grenzen, Transferzahlungen an EU-
Länder. Die Deutschen ritzen dauernd sich
selber, ohne damit irgendjemandem zu nüt-
zen. Sie sind in der archaischen Opferfalle ge-
strandet, müssen Opfer aufspüren und ihnen
Gutes tun. Ihre eigenen Interessen bringen
sie auf dem Altar der Wiedergutmachung dar.
Deutschland ist indes kein Einzelfall. In
den damals besetzten Ländern wie Öster-
reich, Frankreich, Polen oder Jugoslawien
fanden sich für den Holocaust willige Helfer.

Ihre eigenen Interessen
bringen sie auf dem Altar der
Wiedergutmachung dar.

Gesellschaft


Archaisch-religiöser Blindflug


Die Moderne bildet sich viel darauf ein, über die Religion – besonders über
den christlichen Glauben – erhaben zu sein. Sie weckt jedoch viele primitiv-religiöse Reflexe.
Der Opferkult lebt. Daneben erscheint das Evangelium geradezu aufklärerisch. Von Peter Ruch
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