Die Weltwoche - 08.08.2019

(Ben Green) #1
60 Weltwoche Nr. 32.19
Illustration: Jonathan Németh

Die Bibel


Weltbilder


Von Peter Ruch

D


er Herr hat den Mond gemacht zur Bestimmung
der Zeiten, die Sonne, die ihren Untergang weiss
(Psalm 104,19). – An die Fernsehnacht anläss­
lich der ersten Mondlandung vor fünfzig Jah­
ren erinnere ich mich gut. Meine Bewunde­
rung galt dem Mut der Astronauten, der
Technik und der Organisation. Als Radio­
elektrikerlehrling wusste ich, wie Radio, Fern­
sehen und Übertragungen funktionieren. Die
Kommunikation über 350 000 Kilometer er­
schien mir als Quantensprung. Was nicht
aufkommen wollte, war Begeisterung. Das
verstand ich erst etwas später, als ich bei
Dürrenmatt las: «Jeder Fluchtversuch ist eine
Utopie. Am 20. Juli 1969 bin ich wieder Ptole­
mäer geworden.» Der Agnostiker Dürrenmatt
war wegen der Mondlandung zum biblischen
Weltbild zurückgekehrt. Warum?
Die Mondlandung war ein bewundernswer­
ter Schritt – in die falsche Richtung. Es gibt kein
Leben ausserhalb der Erde, weder irdisches
noch fremdes. Der Mond stabilisiert die Erd­
achse und erweist sich darin als blosser Funkti­
onär unseres Lebensraums. Die Mondreise hat
bei mehreren Astronauten tiefe Irritationen
hinterlassen, die sich in Depressionen, Sucht­
syndrome oder familiären Zusammenbrüchen
äusserten. Einzelne wurden religiös, was nahe­
liegt. Reicht der Erfahrungsraum bis zum
Mond, drängt er weiter – bis zu Gott.
Die fiktive Aussensicht unseres Planeten
prägt weiterhin das Weltbild vieler Menschen.
Augenfällig ist das bei den TV­Informations­
sendungen, egal ob bei «Tagesschau», «Télé­
journal», «Telegiornale» oder «Novosti». Mit
einem Globus wird dem Zuschauer suggeriert,
die ganze Welt sei im Blickfeld. Beim ZDF dre­
hen sich mehrere durchsichtige Globusse ne­
beneinander, dann erscheint wie vom Himmel
herab zum Beispiel Petra Gerster, um uns den
Kosmos zu erklären. Sie sieht dreissig Jahre jün­
ger aus, als sie ist, vermutlich weil sie Kosmos
mit Kosmetik verwechselt und damit unge­
wollt den wirklichen Horizont absteckt. Auf
dem Mond waren zwölf Menschen, die bibli­
sche Zahl der Vollständigkeit. Das genügt. Hie­
nieden gibt es genug zu entdecken und zu tun.
Peter Ruch war Pfarrer in drei Gemeinden.

W


er sind wir – Kim Ki Taek, Gattin Chung
Sook, die erwachsenen Sprösslinge Ki
Jung und Bruder Ki Woo –, dass wir in einer
versifften Kellerwohnung hausen müssen,
keine Arbeit haben und regelmässig von ei­
nem Säufer heimgesucht werden, der vor un­
ser Kellerfenster pinkelt? Das Dasein der Fami­
lie Kim ist in jeder Hinsicht ganz unten, eine
reine Demütigung. Doch auf einmal öffnet
sich ihr eine Chance, dem Existenzloch zu ent­
rinnen. Ein Student und Freund von Ki Woo
macht diesem ein verlockendes Angebot: die
Nachhilfe bei Da Hye zu übernehmen, der
Teenagertochter des reichen Mr Park, weil er,
der Student, ins Ausland gehe. Ki Woo müsse
sich nur als Student ausgeben, Mr Parks Frau
Yeon Kyo verlange das; man lebt schliesslich in
der Beletage. Ki Woos Schwester fälscht per­
fekt ein Zeugnis – und schon ist die schöne Mrs
Park vom neuen Nachhilfelehrer sehr angetan.
Die Parks wohnen oben, in schöner, luftiger
Moderne. Neben Tochter Da Hye gibt’s noch
einen kleinen Bruder, der ständig Indianer
spielt, alle mit Saugpfeilen traktiert, irre malt
und wohl psychologische Hilfe brauchen wür­
de. Ki Woo durchschaut rasch Madame Parks
Unsicherheit und empfiehlt ihr nach ersten
Stunden mit der Tochter eine «Therapeutin»
für den kleinen Racker. Dass es sich dabei um
Ki Woos Schwester handelt, verschweigt er na­
türlich. Schritt für Schritt arbeitet sich nun Fa­

milie Kim in die sorglose Höhe des Wohlstands.
Als Ki Woo mal von Mr Parks Chauffeur runter
in die Stadt gefahren wird, mobbt er ihn, bis
Park ihn entlässt und Ki Woo ihm einen neuen,
sehr guten empfehlen kann. So kommt sein
Vater ins Haus, und damit die Mutter auch eine
Stelle findet, wird die Haushälterin madig­
gemacht. Bald hocken die Kims wie Maden im
Speck und fressen und saufen sich eines Abends,
die Parks sind beim Zelten, durch den gefüllten
Kühlschrank – da klingelt’s an der Tür und die
ehemalige Haushälterin steht davor; sie habe
was vergessen. Aufmachen oder nicht?
«Parasite» vom Südkoreaner Bong Joon Ho ist
die aberwitzige Groteske über eine Familie, die
ins Leben einer anderen einbricht. Der Koreaner
versteht es meisterhaft, mit dekorativer An­
schmiegsamkeit Thriller («Mother»), Horror
(«The Host»), Science­Fiction («Snowpiercer»),
süffige Genres also, mit Gesellschaftskritik so zu
vermischen, dass ein scharfes, luzides Vergnü­
gen daraus wird. Die dramatische Gärung
nimmt erst in dem Moment ihre Schärfe an, als
die geschasste Haushälterin unvermittelt das
lose Treiben der Familie Kim zu stören beginnt
und die Eindringlinge zum Handeln zwingt.
Mit immer neuen Wendungen gelingt Bong
Joon Ho eine Überraschung nach der anderen,
denn nicht nur die Ex­Haushälterin meldet sich
zurück, auch die Parks kündigen ihre überra­
schende Rückkehr an, weil starker Regen ihren

Kino


Komik des Scheiterns


Die südkoreanische Gesellschafts-Groteske «Parasite»,
in Cannes mit der Goldenen Palme geehrt, ist klügstes
Unterhaltungskino. Von Wolfram Knorr

Im Leben der anderen: «Parasite».
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