Die Weltwoche - 08.08.2019

(Ben Green) #1

Weltwoche Nr. 32.19 61


Camping­Plan verkachelt hat. Bald geht es drun­
ter und drüber, (scheinbar) wie in Boulevardkla­
motten, aber unterm furiosen Versteckspiel ra­
ckert sich die Komik des Scheiterns an der
Familie Kim ab. Nachdem diese endlich befreit
ist aus ihrem Kellerloch, schnurrt die grosse,
weitläufige Villa zu einem immer enger werden­
den Bunker zusammen. Die Lebensenge, der die
Kims mit Raffinement entflohen sind, ist auch
dort, wo sie eigentlich nicht sein soll.
Einmal wendet sich Ki Woo verzweifelt an
den Vater, der einen Plan versprochen habe.
Doch der hat keinen, denn, so der Vater, wenn
man keinen Plan habe, könne auch keine Ent­
täuschung folgen. Der Sohn aber hatte einen
prima Plan und verlangt einen weiteren. Das
geplante Leben als Albtraum, der Albtraum als
Parodie auf Lebenspläne, das ist von hoher
schwarzer Komik, mit sozialkritischem Effort
für die Armen und Beladenen. Diese höllische
Mixtur ergibt das fulminante Kino des Korea­
ners Bong Joon Ho. Die Beweggründe seiner
Figuren sind wie bei jedem lebenden Men­
schen weder ganz durchschaubar noch gar be­
rechenbar, und exakt daraus entwickeln sich
die verrückten Wendungen und der Thrill
dieser «geplanten» Übernahme eines anderen
Lebens. «Parasite», in Cannes mit der Golde­
nen Palme ausgezeichnet, ist ein absurdes
Spiel über Besitzbegehren. Nicht nur, wer was
besitzt, sondern wer wen besitzt. HHHHH


Weitere Premieren


La chute de l’empire américain _ In «Caba­
ret» sang Liza Minnelli «Money makes the
world go around.» Dass Geld die Welt regiert,
weiss natürlich auch der nette, studierte Philo­
soph und eingeschworene Kapitalismuskriti­
ker Pierre­Paul (Alexandre Landry). Aber als
nach einem missglückten Raubüberfall zwei
Säcke voll Geld zurückgelassen werden, direkt
vor seinen Füssen, überlegt Pierre­Paul nicht
lange, rafft die Moneten an sich und will mit
der Pinke freilich alles anders und besser
machen als die verhassten Kapitalisten. Aber
das vermasseln Polizei und Gangster, die
jeweils ihre Gründe haben, Pierre­Paul das
«unverdiente» Geld wieder zu entziehen. Der
frankokanadische Regisseur Denys Arcand ist
ein Meister klug konstruierter Situationen und
gescheiter Dialoge und hält dabei eine gelun­


gene Balance. Mit dem Blick eines Satirikers
betreibt er Seelen­ und Sehnsuchtskunde, ohne
larmoyant zu werden, ohne abzuheben, immer
höchst unterhaltsam. «La chute de l’empire
américain» gilt als Abschluss einer Trilogie, die
er 1986 mit «Le déclin de l’empire américain»
begann. Dass deutsche Titel bei nichtdeutsch­
sprachigen Filmen gut oder gar sinnvoll sind,
ist eher eine Seltenheit. Doch in diesem Fall
trifft der deutsche Titel den Kern von Arcands
Film besser als der Originaltitel: «Der unver­
hoffte Charme des Geldes». HHHH✩

Fast and Furious Presents: Hobbs and Shaw
_ Ein schwarzer Bolide, der durch London
rast; ein Höllenbike, dressiert wie ein Pferd;
Drohnen, Jagdflugzeuge, ein androider
Superbösewicht (Idris Elba); zwei Glatzkopf­
Mega­Superhelden, die sich – nur scheinbar –
nicht mögen, verbal ständig beharken, aber

gemeinsam fighten (Dwayne Johnson, Jason
Statham) und ein super Showdown auf Sa­
moa. Fans der «Fast and Furious»­Reihe
werden das Spin­off mögen, der Rest wird den
riesig aufgeblasenen Action­Ballon nur für
heisse Luft halten. Das Augenzwinkergetue
der Glatzkopf­Buddys soll der Leere Substanz
geben. HHH✩✩

Jazz


Abwesender


Freund


Von Peter Rüedi

G


ibt es so etwas wie den «Jargon der Eigent­
lichkeit» in der Musik, im Jazz? Wenn
immer sich mir (nicht selten!) Adjektive wie
«lyrisch», «poetisch» oder gar «innig» aufdrän­
gen, zumal im Zusammenhang mit der Kunst
der «Ballade» (die im Jazz nichts mit der literari­
schen Ballade zu tun hat, sondern meist nichts
anderes bedeutet als ein langsames, harmo­
nisch­melodisch nachvollziehbares Stück, oft
aus dem sogenannten Standards­Fundus), zö­
gere ich einen Moment.
Wo liegt, beim Musiker wie beim Zuhörer, die
Grenze zwischen wirklicher Ergriffenheit und
vorgetäuschter, zwischen wahrem Gefühl und
Sentimentalität, zwischen Kunst und Kitsch?
Schwer zu entscheiden, zumal im Jazz, einer
Musik, die seit Anbeginn einen unbedenkli­
chen, ja geradezu handgreiflichen Umgang mit
dem Trivialen pflegte. Theoretisch­definito­
risch ist dem Problem nicht beizukommen, es
ist eine Sache des Gespürs. Diese ganze Präam­
bel hat ja nur den Sinn, das Album eines Pianis­
ten vorzustellen, der mit einer ganz eigenen
und ganz unzweifelhaften Eleganz auf der
Kante balanciert. Seit vielen Jahren verwandelt
Marc Copland berühmte Vorgaben und Stan­
dards, über die scheinbar alles schon gesagt ist,
in eigene Musik, treibt sie an den Rand der
Abstraktion, lässt dem Zuhörer aber immer die
Möglichkeit, sich emotional einzuschwingen.
Copland (1948 geboren und zuerst als Altsaxo­
fonist aktiv, was seiner Melodik auch auf dem
Piano noch anzuhören ist) ist ein Jazzmusiker
von erstaunlicher Produktivität und grosser
Präsenz vor allem in Europa, wo seine CDs in ho­
hem Rhythmus bei Alternativ­ und Kleinstla­
bels erscheinen. Nun hat er seinem langjährigen
Partner, dem Bassisten Gary Peacock, zu dessen
Trio er gehört und mit dem er zuletzt zwei CDs
(immerhin bei ECM!) eingespielt hat («Now
This!» und «Tangents»), ein ganzes Solo­Album
gewidmet: alles Peacock­Kompositionen (ausser
einer frühen Hommage von dessen einstiger
Frau Annette), nachdenkliche Musik unter ver­
hangenen Himmeln mit gelegentlichen Son­
nendurchbrüchen, nicht ohne Pathos manch­
mal, viel Balladeskes, aber eben ohne die Pose
vorgetäuschter Selbstversenkung. Wunderbar.

Marc Copland Piano Solo: Gary.
Illusions Music ILL313009

Action-Ballon: «Hobbs and Shaw».

Geld regiert: «La chute de l’empire américain».


Knorrs Liste
1 Parasite HHHHH
Regie: Bong Joon­Ho
2 Skin HHHH✩
Regie: Guy Nattiv
3 The Lion King HHHH✩
Regie: Jon Favreau
4 Yesterday HHHH✩
Regie: Danny Boyle
5 Spider-Man: Far From Home HHHH✩
Regie: Jon Watts
6 Rocketman HHHH✩
Regie: Dexter Fletcher
7 Dolor y gloria HHHH✩
Regie: Pedro Almodóvar
8 Hobbs and Shaw HHH✩✩
Regie: David Leitch
9 Rebelles HHH✩✩
Regie: Allan Mauduit
10 Anna HHH✩✩
Regie: Luc Besson
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