Die Weltwoche - 08.08.2019

(Ben Green) #1

64 Weltwoche Nr. 32.19
Illustrationen: Jonathan Németh


M


it den Haags an der Mosel ist es wie mit
den Mathiers im Walliser Salgesch: Man
verliert leicht den Überblick über die Genealo-
gie der Winzerdynastien. Wilhelm Haag war als
Leiter des Weinguts Fritz Haag in Brauneberg
an der Mittelmosel einer der Pioniere, die die
Mosel aus der letzten Krise führten. 2005 über-
nahm sein jüngster Sohn Oliver die Leitung des
Guts. Marcus Haag wiederum leitet das Wein-
gut Willi Haag in Brauneberg, während Wil-
helm Haags ältester Sohn Thomas seit 1992 das
Weingut Schloss Lieser in Lieser führt (und seit
1997 auch besitzt). Stuart Pigott, der ausgewie-
senste Cicerone durch die deutschen Weinland-
schaften: «Als Haag hier als Verwalter tätig
wurde, wusste kaum noch jemand, was die
Weine aus dieser Lage auszeichnete. Die exzel-
lenten Jahrgänge ’93–’95 ermöglichten ihm
nicht nur, den Ruf des Betriebs allmählich wie-
der aufzubauen, sondern auch ein Gespür für
diese Lage und ihre Weine zu entwickeln. [.. .]
Bedingt durch die tiefgründigen Schieferbö-
den mit recht hohem Feinerdeanteil sind Haags

Rieslinge aus der Lage Niederberg-Helden Jahr
für Jahr deutlich fester, kerniger und erdiger als
seine Weine aus dem Brauneberg.»
Wie oft an der Mosel, so Pigott weiter, wäre
Schloss Lieser bekannter, wenn dieser Aufstei-
ger mehr Wein hätte als 8,5 Hektar, zumal er auf
niedrige Erträge achtet. Will sagen: Schloss Lie-
ser ist rasch ausverkauft. Eine Auslese Nieder-
berg Helden steht nun funkelnd vor mir im
Glas, ein Riesling aus dem Superjahrgang 2018.
Es ist ein Wein mit beträchtlicher Restsüsse und
niederem Alkoholgehalt. Davor zucken viele
Schweizer Weinfreunde erst mal zurück, die
Trockenes erwarten und, durch jahrelange kle-
brige Erfahrungen mit aufgezuckerten Billig-
weinen von outre-Rhin gebeutelt, zwar unbe-
denklich Sauternes aus dem Graves kaufen,
niemals aber einen deutschen Süsswein. Sie sei-
en hier beschworen, ihre Vorurteile über Bord
zu werfen. Dieser Riesling ist ein derart strah-
lendes, klares, hinreissendes, reich duftendes
und mit toller Säure ausbalanciertes Vergnü-
gen, dass er auch einen Diabetiker wie mich alle
Diätvorschriften vergessen lässt. Darauf näm-
lich, auf das Zusammenspiel von Süsse und
Säure, kommt es an. Mit dem Schrott, den der
Basler Gastrokritiker -sten vor Jahrzehnten ein-
mal als «Traubicola» gegeisselt hatte, hat dieser
noble, rassige Süsswein null und nichts gemein.
Er ist dessen Gegenteil (wie inzwischen viele
süsse deutsche Rieslinge der neueren Genera-
tion). Übrigens, zur Erinnerung für latent ger-
manophobe Schweizer Weintrinker: Die Hier-
archie deutscher Prädikatsweine geht vom
Kabinett, die Spätlese, über die Auslese zur Bee-
renauslese, Trockenbeerenauslese bis zum Eis-
wein (in aufsteigendem Sinn).

››› Fortsetzung von Seite 63


mit ihrer Kamera und einem Mikrofon, über
das ein Pelz gestülpt war (was die Klimaerwär-
mung nicht gerade plausibler machte), zu
einer jungen Frau durch, die ihre Brüste
entblösst hatte (was andererseits für die Er-
wärmung sprach). Auf den Brüsten stand:
«Save the planet!» Ich fragte mich, ob die Ret-
tung des Planeten es rechtfertigte, als Mann
länger auf diese Brüste zu schauen, als es für das
Lesen des Textes notwendig war. Der Chef des
Fernsehteams fragte die Frau, ob sie eine Bot-
schaft an die Erwachsenen habe. Sie sagte, man
müsse endlich die Pariser Klimabeschlüsse um-
setzen! Ich hatte von diesen Beschlüssen noch
nie gehört, aber mir gefiel der Gedanke, dass
sich Leute an einen Konferenztisch setzen und
beschliessen, wie das Klima zu sein hat.
Doch bei aller Sympathie für solche Be-
schlüsse hätte ich nun doch gern mein Minor
Intenso gekauft. Es ist eine Limited Edition,
man muss sich rechtzeitig einen Vorrat zule-
gen, denn eines Tages wird es kein Intenso
mehr geben. So ist die Natur: Limited Edition.
Nichts bleibt. Alles ist nur vorübergehend. Ar-
ten entstehen, Arten vergehen, weil es ihnen zu
heiss oder zu kalt wird. Ich sagte zu den jungen
Leuten: «Jetzt lasst mich mal zum Kiosk durch,
ich bin herzkrank und brauche ein Gesund-
heitsmagazin.» Und tatsächlich traten sie zur
Seite, sie bildeten für mich eine Rettungsgasse!
Wir haben diese Kinder wirklich gut erzogen!
Einer rief sogar: «Macht Platz, der Mann hat
einen Infarkt!» Den kriegte ich aber erst, als mir
die Kioskfrau ins Ohr schrie (weil die Demon-
stranten einen Sprechchor anstimmten), sie
habe gerade das letzte Intenso verkauft, die De-
monstranten seien ganz scharf gewesen darauf.


Linus Reichlin ist Schriftsteller und lebt in Berlin.


Weingut Schloss Lieser Thomas Haag:
Niederberg Helden Riesling Auslese 2018. 7,5 %. Gerstl,
Spreitenbach, Fr. 39.60 (ab 1. 9. 44.–). http://www.gerstl.ch

Restaurant Schlüssel, Oberdorfstrasse 5,
8887 Mels, Tel. 081 723 12 38

Z


wei gekreuzte Schlüssel bilden das
Ortswappen von Mels im Sarganser-
land. Die Feinschmecker in unserem Land
kennen aber seit Jahren nur einen «Schlüs-

sel» in Mels, und das ist das Traditionslokal
der Familie Kalberer. Vier Jahrzehnte lang
schwang Vater Seppi den Kochlöffel am Herd,
nun ist die Leitung in der Küche an den Sohn
Roger Kalberer übergegangen, der unter ande-
rem bei Rochat und Caminada tätig war. Zu
unserer grossen Freude konnten wir fest-
stellen, dass der Sohn dem kulinarischen
Programm wohl seine eigene Note beigefügt
hat, aber klug genug ist, die grossen Linien
und die köstlichen Spezialitäten der Familie
weiterzupflegen. Geblieben ist auch Marianne
Blum, die sich um die Gäste kümmert.
Das Haus und seine Einrichtung atmen
ebenfalls solide – in der Nidbergstube sogar
elegante – Bodenständigkeit. Vier kleine
Amuse-Bouches – eine Tomatenessenz, ein
hervorragendes Häppchen Fisch, ein Hack-
tätschli mit Foie gras und ein Speckküchlein


  • erwiesen sich als perfekte Visitenkarte für
    die folgenden Gänge: Erwähnt seien die


Hummersuppe, die Bouillabaisse und das
noch immer verführerische «Melser-
töpfli»- Soufflé. Noch immer steht die ge-
bratene Entenleber mit Zwetschgen auf
der Karte. Auch das traditionelle Kalbs-
bäggli mit seiner samtigen Rotweinsauce
ist ein perfektes kleines Kunstwerk. Schon
eher ein grosses Kunstgebilde ist die per-
fekt gegarte Forelle im Teig. Ob sie wirk-
lich aus der nahe vorbeifliessenden Seez
aus dem Weisstannental stammt, haben
wir nicht erfahren. Der «Schlüssel» ist mit
einem Michelin-Stern ausgestattet, und
es stimmt: Die Finesse der Küche lohnt
den Stopp auf dem Weg ins Bündnerland.
Und auch der «Gault Millau» reiht den
Gasthof mit siebzehn Punkten bei der
Spitzengastronomie ein.

Wein


Das Süsse


und das Saure


Von Peter Rüedi


Salz & Pfeffer


Schlüssel


zum Genuss


Von Andreas Honegger

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