Die Weltwoche - 08.08.2019

(Ben Green) #1
8 Weltwoche Nr. 32.
Bild: Salvatore Di Nolfi (Keystone)

A


m meisten Farbe hatte Calvin abbekom-
men – mit ein paar Kübeln Rot und Gelb
wurde seine Robe verschmiert. Nicht ver-
schont blieben die überlebensgross in Stein
gehauenen Protestanten an seiner Seite. Das
humanitäre Genf ist bekanntlich der europä-
ische Sitz der Vereinten Nationen und die
Hauptstadt der weltweiten Ökumene. Das
französische Observatoire de la christiano-
phobie nahm den Anschlag auf die Reforma-
tionsmauer im Park der von Jean Calvin be-
gründeten Universität in seine Liste der
Vandalenakte auf. Er war in der Nacht nach
der Gay Pride vom 14. Juli erfolgt – und von
allem Anfang an war klar: Bei den Tätern han-
delt es sich keineswegs um «Homophobe».
Zu Schmierereien war es bereits im Juni, Mai
und März gekommen. Die Stadt klagte jeweils
und schickte ihre Putzmannschaft. Diesmal
sind die Reinigungsarbeiten ganz besonders
heikel und aufwendig. Aber darüber regt sich
niemand wirklich auf. Schon gar nicht die Pro-
testanten, denen ihr Denkmal peinlich ist.

«Farbenfrohe Inkontinenz»
Gebaut wurde es mit Geld der deutschen, un-
garischen und schottischen Brüder aus Anlass
von Calvins 400. Geburtstag, vollendet mit-
ten im Ersten Weltkrieg. Der Erinnerungsort
sollte den Protestantismus in der Aufklärung


  • «Post Tenebras Lux» steht über den Köpfen

  • verankern und seine Verbundenheit mit der
    Demokratie wie der Freiheit unterstreichen.
    «Doch zum Zeitpunkt der Einweihung war
    der offizielle und obligatorische Protestantis-
    mus bereits im Niedergang begriffen», erklärt
    die Genfer Theologin Sarah Scholl, «und die
    Mauer von allem Anfang an unverständlich.»
    Gabriel de Montmollin, der das sehr viel
    jüngere Reformationsmuseum leitet, mag
    sich ebenfalls nicht empören: «Ein Denkmal
    im öffentlichen Raum ist nun einmal expo-
    niert.» Zudem verweigere sich der Protestan-
    tismus «jeglicher Sakralisierung» und habe
    viel «für die Meinungs- und Gewissensfrei-
    heit und den Respekt der Minderheiten ge-
    leistet».
    Der Sozialist Sylvain Thévoz verklärte die
    «herrliche und farbenfrohe Inkontinenz» zur
    Street-Art. Ihm fehlte lediglich die program-
    matische Erklärung, die der noch unauf-
    geklärten Menschheit den «tiefen Sinn» des
    Engagements für die LGBTIQ+-Bewegung
    erklären würde. Das Kürzel, das einst für die
    Homosexuellen zweier Geschlechter stand,
    wird ständig länger. Jetziger Stand: Lesben,
    Gays, Bisexuelle, Transen, Intersexuelle,
    Queers und mehr (+).
    Ein spätes Bekennerschreiben hat nun aber
    die Wahrnehmung des Farbanschlags radikal
    verändert. Die solidarische Sympathie wich
    nacktem Entsetzen. Nicht weil es sich bei den
    Tätern doch um neofaschistische Schwulen-
    hasser gehandelt hätte. Nein, die Farbbeutel-
    werfer kommen vom radikalen Rand der
    LGTB-Bewegung. Und sie beklagten, dass an
    der Gay Pride im Zeichen des Regenbogens
    Wagen von politischen Parteien – der Grünen

  • und multinationalen Grosskonzernen mit-
    fuhren. Dass die Stadt versuche, sich ein gutes
    Gewissen zu verschaffen.
    Thévoz’ «Inkontinenz» gerät zur versalze-
    nen «Farben-Suppe». Die etablierten LGBT-
    Vereinigungen schlagen sich auf die Seite von
    Stadtpräsidentin Sandrine Salerno (SP), die so
    viele Projekte in die Wege geleitet habe. Das
    wirre Pamphlet trifft Genf, wo man sich gern
    mit einem homosexuellen Imam brüstet, in sei-
    ner Identität. Die Verlegenheit, ja Verwirrung
    ist gross. Die – sexuellen – Minderheiten bekla-
    gen sich nicht über ihre Diskriminierung. Sie
    bestätigen ihre Instrumentalisierung durch die
    Politik. Man darf das als unfreiwilliges Einge-
    ständnis deuten: dass ihr Kulturkampf gewon-
    nen ist. Und das ist gut so.


Geschlechter


Und Calvin ging zum Regenbogen


Von Jürg Altwegg _ Radikale Gender-Aktivisten verüben Farbanschläge
auf die Reformationsmauer in Genf. Sie wehren sich gegen die
Vereinnahmung ihrer Anliegen durch Politik und Wirtschaft.

Wissenschaft


Propheten


Von Erik Ebneter – Prognosen von
Forschern sind fehleranfällig.
Sonst wären es Offenbarungen.

D


ie Geschichte der Klimawissenschaft ist
reich an Fehlprognosen. Dass in den
1970er Jahren viele Experten vor einer Abküh-
lung warnten, ist heute weitherum vergessen.
Die aktuellen Debatten drehen sich um die Fra-
ge, wie stark die globale Erwärmung ausfallen
wird: Lässt sie sich auf 1,5 Grad gegenüber dem
vorindustriellen Niveau begrenzen? Dagegen
ist nichts einzuwenden, denn die Wissenschaft
soll Szenarien entwickeln, die auf dem Stand
der Forschung beruhen. Was irritiert, ist, wie
routiniert selbst sachliche Einwände gegen die-
se Prognosen abgewehrt werden. The science is
settled, heisst es. Die Forschung ist gemacht.
Es gab eine Zeit, da sprachen wissenschaft-
liche Grössen unumwunden von der Fehler-
anfälligkeit ihrer Arbeit. Ein Beispiel ist Wil-
helm Bickel, ein hochangesehener Statistiker
und Demograf, der 1967 als Rektor der Univer-
sität Zürich wirkte. Seine Rede am Dies acade-
micus über «Bevölkerungszahlen in Vergan-
genheit und Zukunft» liest sich heute wie eine
häretische Schrift. «Das Prophezeien ist eine
alte Liebhaberei des Menschen», sagte Bickel.
«Die einen tun es aus dem Kaffeesatz, die an-
deren wenden hochwissenschaftliche Metho-
den an, wobei sich der Skeptiker fragen mag,
ob die Resultate bei diesem Vorgehen so viel
besser sind als bei jenem.»

In guter Gesellschaft
Mit sokratischer Bescheidenheit bekannte er,
die Bevölkerungswissenschaftler besässen die
Gabe, mit ihren Voraussagen immer falsch-
zuliegen. Die Geschichte ihrer Prognosen sei
eine Geschichte der Irrtümer, «was eine ge wisse
Zurückhaltung auch gegenüber den heutigen
Propheten nahelegt». Das heisst nicht, dass
Bickel auf Voraussagen verzichten wollte:
«Science is prediction. Alles mensch liche Han-
deln, das nicht planlos ins Blaue hinein ge-
schieht, setzt voraus, dass wir irgendwelche
Annahmen über die Zukunft treffen.» Er plä-
dierte jedoch dafür, sich «von vorgefassten Mei-
nungen, von Wünschen und Befürchtungen
wie auch von einer Überschätzung augenblick-
licher Entwicklungstendenzen freizumachen,
uns des hypothetischen Charakters aller Prog-
nosen bewusst zu bleiben und sie nicht als
unab änderliches Schicksal hinzunehmen».
Mit seiner Skepsis befand er sich in guter
Gesellschaft. Wie soll Niels Bohr, der dänische
Physiker und Nobelpreisträger, einmal gesagt
haben? «Prognosen sind schwierig, vor allem
wenn sie die Zukunft betreffen.» Gutes Gewissen: Reinigungsarbeit, Genf.
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