Die Weltwoche - 08.08.2019

(Ben Green) #1

Weltwoche Nr. 32.19 9
Bild: iStock Getty Images


M


an bezeichnet sie als «blauen Staat»,
weil sie staatliche Aufgaben für einen
Grossteil des palästinensischen Volkes
wahrnimmt. Mit einem Jahresbudget von
1,2 Milliarden Dollar und 30 000 Angestell-
ten ist das Hilfswerk für Palästina-Flücht-
linge (UNRWA) die grösste Uno-Agentur.
Ohne die UNRWA hätten eine halbe Million
Kinder keinen Schulzugang und über zwei
Millionen Menschen keine Gesundheits -
versorgung, oft auch kein Dach über dem
Kopf und nichts zu essen. 5,5 Millionen
Palästinenser haben, sofern sie bedürftig
sind, Anspruch auf ihre Leistungen. Rund
die Hälfte von ihnen, namentlich in Jor-
danien, steht längst auf eigenen Beinen.
Der Rest ist existenziell auf sie angewiesen.
Im Libanon werden die meist sunniti-
schen Palästinenser wegen des religiösen
Gleichgewichts des Landes nicht integriert
und dürfen kaum ausserhalb ihrer Lager
arbeiten. Der Gazastreifen ist etwa so gross
wie der Kanton Schaffhausen und eine
Halbwüste. Darin sind zwei Millionen
Menschen zusammengepfercht, seit drei-
zehn Jahren im Belagerungszustand. Die
allermeisten stammen aus dem heutigen
Israel und überleben nur dank der UNRWA.
Nun wird der Hilfsorganisation verbrei-
tete Korruption, Vetternwirtschaft und
anderes mehr vorgeworfen, bislang ohne
Beweise. Dass die Vorwürfe auch Pierre
Krähenbühl, den schweizerischen UNRWA-
Chef, persönlich betreffen, schockiert eini-
germassen. Ansonsten wäre es kaum über-
raschend, wenn ein Teil der Mitarbeiter
sich der nicht nur in Nahost weitverbreite-
ten Vetternwirtschaft und Bereicherung an
öffentlichen Geldern hingegeben hätte.
Dieses Phänomen ist bei grossen internati-
onalen Hilfsoperationen leider eher die
Regel als die Ausnahme.
Der Zeitpunkt der Enthüllung wahr-
scheinlich schon lange andauernder Miss-
stände ist wohl nicht ganz zufällig. Seit
Trumps Einzug im Weissen Haus steht die

UNRWA unter starkem politischem Druck.
Die USA haben ihr die Unterstützung und da-
mit ein Drittel der Mittel entzogen. Man wirft
ihr vor, einem Frieden im Weg zu stehen, weil
sie die palästinensische Flüchtlingsproblema-
tik perpetuiere und die Hoffnungen auf eine
Rückkehr nach Israel am Leben erhalte. Es
wird bemängelt, dass sie die Nachkommen der
ursprünglichen Flüchtlinge ebenfalls als
solche registriert, und hinterfragt, warum es
für die Palästinenser überhaupt eine spezielle
Organisation braucht.
Letzteres hat auch mit der besonderen Ver-
antwortung der Uno und ihrer Vorgänger-
organisation für Palästina zu tun. Nach dem
Untergang des Osmanischen Reiches im Ers-
ten Weltkrieg übernahm der Völkerbund die
Verantwortung für Palästina und erteilte den
Briten den Auftrag, dort eine nationale jüdische
Heimstatt (national Jewish home) zu errichten,
wobei dies die zivilen und religiösen Rechte
der (damals zu 88 Prozent) nichtjüdischen
Bevölkerung nicht beeinträchtigen dürfe.
25 Jahre später entschied die Uno nach dem
Horror des Holocaust, einem jüdischen Staat
57 Prozent Palästinas zuzusprechen, wobei sie
erneut die Rechte der dort lebenden nichtjüdi-
schen Bevölkerung betonte. Im vorgesehenen
jüdischen Staat waren immerhin noch zwei
von fünf Bewohnern Araber, im arabischen
bloss 1 Prozent Juden. Die Araber lehnten den
aus ihrer Sicht unfairen Teilungsplan ab. Im
folgenden Krieg eroberte Israel gut drei Viertel
des Mandatsgebiets; fast zwei Drittel von des-
sen nichtjüdischer Bevölkerung mussten ihre
Heimat verlassen. Der Uno-Sicherheitsrat for-
derte 1948 deren Rückkehr (Resolution 194).
Bis dahin betraute man die UNRWA mit der
Betreuung der Flüchtlinge. Das Rückkehr-
recht wurde seither mehrfach bekräftigt, un-
ter anderem auch im Beschluss zur Aufnahme
Israels in die Welt organisation.
Die Komplexität der Frage eines Rückkehr-
rechts der Palästinenser siebzig Jahre nach der
Flucht erkennt man daran, dass dessen grösste
Kritiker gleichzeitig ein Rückkehrrecht für

Juden aus aller Welt postulieren, deren
Vorfahren das Land vor bald 2000 Jahren
verlassen hatten, und dass Israel seine Legi-
timität darauf abstützt.
Es ist auch den meisten Palästinensern
inzwischen klar, dass Israel die «Rück-
kehr» von über fünf Millionen Palästinen-
sern in sein Staatsgebiet niemals akzeptie-
ren kann, denn sie bedeutete sein Ende als
jüdischer Staat. Der weitgehende Verzicht
auf dieses Recht ist indes praktisch das
Einzige, was sie Israel in einem Friedens-
vertrag noch anzubieten haben. Ohne
Gegenleistung und Lösung für ihre missli-
che Situation kann man von ihnen kaum
erwarten, dieses Recht aufzugeben.
Würde die Weltgemeinschaft das Recht
auf Rückkehr der Palästinenser ohne Frie-
densvertrag mit einem Verfalldatum verse-
hen, hätte dies Auswirkungen auf alle an-
dern Flüchtlinge, für welche die Uno
regelmässig ein solches fordert, jüngst
etwa für die Rohingya aus Myanmar. Dies
käme einer Einladung an die «Vertreiber»
gleich, das Problem einfach auszusitzen.
Ohnehin tun sie meist genau dies.

I


n der heutigen Zeit wächst die Tendenz,
der Macht des Faktischen und damit
dem Recht des Stärkeren nachzugeben.
Nicht nur die USA, Russland und China,
auch immer mehr europäische Politiker
geben der sogenannten Realpolitik Vor-
rang vor dem Völkerrecht, etwa bezüglich
der vom Internationalen Gerichtshof für
illegal erklärten chinesischen Usurpation
des Südchinesischen Meeres oder der russi-
schen Annexion der Krim, wo der Europa-
rat kürzlich seine Sanktionen aufhob.
Die Palästinenser laufen Gefahr, Opfer
dieser «Realpolitik» zu werden. Kaum
jemand glaubt noch an eine Zweistaaten-
lösung; selbst Saudi-Arabien scheint be-
reit, sie für eine Allianz mit Israel und den
USA gegen den Iran aufzugeben. Da Israel
gleiche Rechte für alle Bewohner eines ge-
meinsamen Staates kategorisch ablehnt,
gibt es für die Palästinenser jedoch keine
akzeptable Alternative. Vor diesem Dilemma
würde es ein Ende der UNRWA der Welt
erleichtern, das palästinensische Volk ein-
fach langsam dem Vergessen anheimzu-
geben. Und die Eidgenossenschaft könnte
mit den eingesparten 22 Millionen Fran-
ken für die UNRWA vielleicht die nächste
Botschaftseröffnung oder Weltausstellung
wieder selbst berappen, statt bei Firmen
betteln zu müssen.

Herodot


Blauer Staat


Das Uno-Hilfswerk für Palästinaflüchtlinge steht im Zentrum
eines Machtpokers – mittendrin: sein Schweizer Chef, dem
Misswirtschaft vorgeworfen wird. Was ist los im Nahen Osten?

Herodot ist ein der Redaktion bekannter Weltreisender,
seit Jahrzehnten wissenschaftlich und politisch tätig,
u. a. für die Uno.
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