Kommt eine chinesische Familie in ein no-
bles Londoner Hotel. Es hat geregnet, die
Frisuren sitzen nicht mehr, die Kinder sind
müde und hinterlassen Schmutzspuren.
Der Manager beschließt, die Reservierung
dieser Leute zu ignorieren und sie so
schnell wie möglich nach draußen zu bug-
sieren. Dort betritt eine wütende Frau eine
Telefonzelle und schildert ihrem in Singa-
pur sitzenden Mann den Rausschmiss. Der
kauft kurzerhand den ganzen Laden, den
Lord-Eigentümer kennt er vom Golfen in
Kalifornien. Triumphaler Wiedereinzug,
Manager entlassen, Suite bezogen.
Diese erste und beste Szene in Kevin
Kwans Romanbestseller „Crazy Rich Asi-
ans“ spielt 1986 und fasst schön zusam-
men, wie das funktioniert mit dem Geld:
Man muss nur Bertolt Brechts Merkspruch
„Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen
die Gründung einer Bank?“ beherzigen
und die Produktionsmittel unter Kontrolle
bringen. Der kleine Junge, der Mitte der
Achtziger dabei war, entwickelt sich dann
trotz dieses Lehrstücks zum Sonderling
des weitverzweigten Clans: Nick Young
wird Geschichtsprofessor an der New York
University und blendet seinen Reichtum so
umfassend wie möglich aus; aber er rebel-
liert auch nicht gegen seine seit Generatio-
nen in Singapur ansässige chinesische Fa-
milie. Als er sich in eine Kollegin verliebt –
Rachel Chu, Wirtschaftsprofessorin und
Tochter einer in die USA eingewanderten
Festlandchinesin –, lässt er sein milliarden-
schweres Erbe weiterhin unerwähnt.
Damit kann Kwan seine romantische
Komödie mit allen gängigen Verwicklun-
gen und Intrigen starten, denn Rachel geht
allmählich ein Licht auf, als die beiden
nach zwei Jahren Beziehung Urlaub in
Asien machen. Was die Leser schon längst
wissen: Ihr Freund ist einer reichsten und
dementsprechend umkämpftesten Jung-
gesellen in Fernost, und seine Mutter gerät
in Panik, als durchsickert, dass die Sache
mit Rachel etwas Ernstes ist. Als amerikani-
sierte, bitterarme No-Name-Chinesin
wäre Rachel als Schwiegertochter selbst-
verständlich ein Supergau; obwohl, apro-
pos No-Name, anfangs unklar ist, ob Ra-
chel nicht doch zum Clan der Plastik-Chus
aus Taipeh gehört. Privatdetektive brin-
gen Licht ins Dunkel, und bitchige Ex-
Freundinnen geben alles, um das Verhält-
nis zu vergiften.
Märchenhafter Reichtum ist nichts für
Mimosen, warnt der Roman einerseits –
und folgt dem Märchenmodell anderer-
seits in einer Art Aschenputtel: die fleißige,
hübsche, kluge Aufsteigerin bekommt den
Prinzen.
Rachel gilt als ABC, als „American-born
Chinese“, obwohl sie noch in der chinesi-
schen Provinz geboren wurde. Dass „Crazy
Rich Asians“ in den USA ein Bestseller war
und auch die Verfilmung zum Kassenschla-
ger wurde, dürfte viel mit solchen Identi-
fikationsangeboten zu tun haben. Noch
dazu lässt Kevin Kwan die je nachdem prol-
ligen, versnobten, naiven oder super-dis-
tinguierten Charaktere in schmissigen
Dialogen aufeinanderprallen. Nicks Mut-
ter Eleanor zum Beispiel ist von geradezu
höfischer Bosheit: „Als ob mich das beein-
drucken würde, wenn so ein Bauerntram-
pel ein bisschen im Essen rumpanscht“,
zischelt sie ihrem Mann zu, nachdem die
depperte ABC erzählt hat, dass sie gern für
ihren Boyfriend kocht.
Damit das Imperium mit Niederlassun-
gen in Singapur, Hongkong, Bangkok und
Großbritannien in all seinen Facetten glit-
zern kann, beleuchtet Kevin Kwan immer
wieder neue Familienmitglieder mit recht
unterschiedlichen Anlagen (charakterlich
wie finanziell). Man lernt, dass die Super-
reichen „ihren Kindern Häuser wie Schoko-
riegel“ schenken, und zu den Immobilien-
portfolios, Banken und Konzernen kom-
men noch Luxusgüter als Kernstücke der
anstrengenden Statussicherung hinzu. Die
eine sortiert ihre Sammlung schwarzer ta-
hitianischer Perlen nach Farbintensität,
der andere ist deprimiert, weil er keinen
Privatjet hat wie seine noch reicheren
Freunde, die dritte fliegt ständig nach Pa-
ris, um ihr Archiv exquisiter historischer
Couture zu erweitern, der vierte verzockt
Unsummen in Macau, der fünfte drangsa-
liert den sechsjährigen Sohn, der nicht
weiß, welche Gucci-Slipper zum jeweili-
gen Outfit passen. Um kurz auf die Privat-
flugzeuge zurückzukommen: Es geht gene-
rell nicht um Standardmodelle, sondern
um Maßanfertigungen (weshalb die Gucci-
Slipper auch eher im angestrengt-protzi-
gen Familienzweig Thema sind). „Gab es
wirklich Leute, die so reich waren, dass sie
sich in ihrem Privatjet ein topmodernes
ayurvedisches Yogastudio mit kiesverzier-
ten Wänden und beheizbarem Boden ein-
richten konnten?“, fragt sich Rachel, als sie
in so einer Maschine sitzt.
Kevin Kwan, 1973 in Singapur geboren,
kennt sich aus im Milliardenmilieu, das
betont sowohl der Verlag als auch der Au-
tor selbst in vielen Interviews – als Kind
besuchte er in Singapur eine Eliteschule,
bevor er mit seiner Familie in die USA zog.
Die Reichen-Freakshow, die er mit An-
merkungen zur Singapurer und Hongkon-
ger Gesellschaft garniert, ist anfangs auch
verdienstvoll unterhaltsam – hat aber
einen entscheidenden Haken: Sie ist um
mehrere hundert Seiten zu lang. Selbst
hartgesottene Fashionistas dürften sich
nach 570 Seiten gähnend abwenden, nach-
dem auch noch der hinterletzte Designer
hervorgezerrt wurde, um ein bisschen Dis-
tinktionsgewinn zu erzielen. Dazu kommt
noch etwas anderes: Das nackte Archiv, die
lange Liste, ausgestellter Konsum und end-
loses Namedropping sind als literarische
Maschen deutlich in die Jahre gekommen,
weshalb solche Hedonismus-Erzählungen
schon lange keine Aufreger mehr sind. Der
ruchlose Lack ist ab, darunter dämmert
die sanfte Komödie. Ein letztes Pfeffer-
minzblättchen? Nachdem eine legendäre
Sängerin – die Barbara Streisand Asiens –
überraschend bei einer Vierzig-Millionen-
Dollar-Hochzeit auftritt, fragen sich die an-
wesenden Erbinnen, wie die Ikone das nur
hinkriegt mit ihrem atemberaubenden
Look. „Erbrochenes von neuseeländischen
Walen“, meint eine von ihnen, die selbst
aussieht wie die chinesische Catherine De-
neuve, „wird aufs Gesicht aufgetragen und
wirkt angeblich Wunder.“
jutta person
Kevin Kwan:Crazy Rich Asians. Roman. Aus dem
Amerikanischen von Anna-Christin Kramer und Jen-
nyMerling. Kein & Aber, Zürich 2019. 576 Seiten,
20 Euro.
Erzählen mit Blackouts, Versuche, die
schwarzen Löcher eines Lebens zu füllen,
die Verunsicherung zu dämpfen, die sie
hervorrufen. Aber es ist, als käme mit ei-
nem Blackout überhaupt erst der Impuls
zu erzählen. Mit zwölf ist Lamar Hale in ein
Koma gefallen, ohne Vorwarnung, fast ein
Jahr lang lag er im Krankenhaus, und trotz
vieler Untersuchungen konnten die Ärzte
die Ursache nicht ermitteln. Diagnosti-
scher Blackout. „Was die Ärzte nicht wuss-
ten, was niemand wusste, war, dass ich
nicht allein gewesen war. Die Besucher, die
anderen, kamen zu mir, als ich dort lag. Ich
weiß nicht, wann sie eintrafen, am ersten
Tag oder etwas später, jedenfalls waren sie
die meiste Zeit über da. Die einzige Welt
und Zeit, die ich hatte, war ihre.“
Das Ich als Sammelstelle, als Durch-
gangsstation. Wenn Lamar erzählt, von
sich und von seiner Stadt, löst sich schnell
die Vorstellung von fester Persönlichkeit
und von einem individuellen Platz in der
Gesellschaft auf, und man muss auf mini-
male Nuancen achten, wenn er die Ebenen
wechselt, unvermittelt und fast unmerk-
lich, vom Realen ins Fantastische, von der
Gegenwart in die Vergangenheit. Oder in
die Zukunft. In den Wochen, als er aus sei-
nem merkwürdigen Koma in die gewöhnli-
che Welt zurückkehrte, legte er sich ein
Sammelsurium zu von fremden Identitä-
ten, auch solchen, die ihm selber unbe-
kannt sind.
Lamar ist inzwischen der Arzt der klei-
nen (fiktiven) Stadt Willnot, da ist er rund
um die Uhr präsent und für alle da, in sei-
ner Praxis oder im Krankenhaus, bei Alten
und Jungen, durch nichts zu erschüttern
und reaktionsschnell. Er kümmert sich um
den Tumor, der in einer Untersuchung bei
einem Patienten überraschend entdeckt
wird und so groß ist, dass er jeden Augen-
blick platzen könnte; um den Herzinfarkt,
den der Sheriff im Dienst erleidet; um die
Nachtigall mit dem gebrochenen Flügel
und dem abgerissenen Schnabel, die Jen-
ny in die Praxis bringt. Mr. Edmonds hat
im Park an seinem Schlag gearbeitet und ei-
ner seiner Golfbälle hat das Tier getroffen.
Lamar spürt den letzten Schlag ihres winzi-
gen Herzens auf seiner Haut.
Ginny Farrell reicht ihm ein kleines, in
ein Handtuch eingewickeltes Bündel: „Ich
hatte drei Fehlgeburten, als ich verheiratet
war. Man hatte mir gesagt, ich könnte kei-
ne Kinder bekommen. Aber jetzt ... habe
ich eins zur Welt gebracht. Heute morgen,
als der Sturm aufkam.“ Im Bündel ist eine
Eidechse, lebendig, aber starr vor Angst.
„Ist sie nicht wunderschön?“
Der Roman beginnt mit einer unerwarte-
ten Entdeckung: „Wir fanden die Leichen
zwei Meilen außerhalb der Stadt, in der Nä-
he der alten Kiesgrube.“ Vier Tote, mit Kalk
bedeckt. Unbekannte. Man wird im Ro-
man nicht geklärt bekommen, um wen es
sich dabei handelt und wer diese Men-
schen getötet haben könnte.
James Sallis hat in seinen Krimis immer
die Grenzen des Genres gedehnt, sein be-
kanntester ist wohl „Drive“, den Nicolas
Winding Refn mit Ryan Gosling verfilmt
hat. In „Willnot“ geht Sallis über die Gren-
zen des Genres hinaus und definiert es
neu. Das Genre, das vielleicht das ge-
schlossenste überhaupt ist, erhält hier eine
fantastische Offenheit. Das Buch stellt ei-
nen Haufen Fragen und wird wenig Ant-
worten liefern. Einmal wird der berühmte
Satz von Kierkegaard zitiert, dass das Le-
ben rückwärts verstanden, aber vorwärts
gelebt werden muss.
Nach dem Leichenfund – so dass man
kurz vermutet, in einer kausalen Folge da-
von – steht plötzlich Brandon Roemer
Lowndes in der Tür von Lamars Praxis, er
war vor Jahren sein Patient. Jetzt ist er bei
den Marines, ein Sniper, „man nennt mich
heute Bobby“. Er verschwindet gleich nach
dem Besuch, taucht aber unerwartet wie-
der auf. Später wird auf ihn geschossen. Ei-
ne FBI-Agentin kommt in die Stadt und
sucht nach ihm, beider Wege werden sich
nie kreuzen, aber irgendwie bilden sie zu-
sammen ein merkwürdiges Paar. Noch spä-
ter stellt sich heraus, es gibt offenbar keine
Unterlagen über Bobby bei den Marines. Ei-
ne unerklärliche, unerklärte Existenz.
Die großen amerikanischen Romane
des vorigen Jahrhunderts – Faulkner, Wol-
fe, Dick, Bradbury, Irving – sind Geschich-
ten von der Provinz, und sie sind kompo-
niert wie eine musikalische Fuge, mit ein-
zelnen Elementen, die sich miteinander
verlaufen. „Musik war immer integraler
Teil meines Lebens“, erzählt James Sallis,
„mein erstes großes Vorhaben als Kind war
Komponist zu werden.“ Er hört alles, Mo-
zart, Tschaikowsky, Mahler, Wagner und
Vivaldi, nachts im Bett dringen die Honky-
tonk-Klänge aus dem Drive-in-Restaurant
in der Straße an sein Ohr. Mit Freunden hat
er eine eigene Band gegründet und tritt re-
gelmäßig damit auf.
Er sei Handwerker, ein Bastler, erklärt
Lamar einmal, „ich repariere Dinge, tue
mein Bestes, dass sie wieder richtig funkti-
onieren“. Die Stadt Willnot selbst wirkt
manchmal wie ein subtiles Bastelkons-
trukt, wie ein Mobile, in dem die Menschen
sich zu- und wegbewegen, immer wieder
einen unerwarteten Zustand von Harmo-
nie herstellen. Einen starken Beitrag dazu
liefert Lamar mit seinem erfahrenen Hel-
ferteam, inklusive sein Lebensgefährte Ri-
chard, der ein Schullehrer ist.
Unterhalb dessen, was Lamar erzählt,
wuchert ein Geflecht alter Geschichten und
Konflikte, von unerfüllbaren Hoffnungen,
die das Handeln der Menschen in Willnot
mit möglichen Motiven versehen könnten.
Darüber gibt es ein vielfach verschlunge-
nes Konglomerat von erfundenen, aber fan-
tasievoll durchgespielten Variationen zum
irdischen Leben – in den Romanen, die La-
mars Vater schrieb, der produktive und er-
folgreiche Science-Fiction-Autor Joseph
M. Hale. Er hat zeit Lebens die Pulps be-
dient, und hätte gern gesehen, dass der
Sohn diese Tradition fortsetzen werde, er
hat ihn immer mitgenommen zu Kongres-
sen der großen verschworenen amerikani-
schen SF-Community, zu den Kollegen Bob
Silverberg, Robert A. Heinlein, Kate Wil-
helm und ihrem Mann Damon Knight,
Theodore Sturgeon. In der Pulp-Fiction der
Fünfziger und Sechziger wurde amerikani-
sche Realität analysiert und fortgeschrie-
ben, wurden ungewöhnliche gesellschaftli-
che Modelle und Visionen entwickelt, alter-
native Träume in Form gebracht.
„Der Biograf“ heißt einer der Romane,
den der Sohn Lamar nach langer Zeit noch
einmal liest, es ist „die Geschichte eines
Mannes, der Menschen aus ihrem Leben
herausnimmt und sie irgendwo zwischen-
lagert (wir erfahren nie, wo, aber das spielt
auch keine Rolle), während er ihren Platz
einnimmt und sie nach zwanzig, dreißig
Seiten zurück in ihr Leben entlässt, das
sich aufgrund seiner Handlungen (Dinge,
die sie selbst niemals tun würden) und sei-
ner Erfahrungen (Erfahrungen, die sie nie-
mals machen würden, die ihnen aber blie-
ben, nachdem sie ihr Leben zurückerhal-
ten hatten) dramatisch verändert hatte.“
Das klingt, als hätte der Vater Lamars
merkwürdiges Koma-Erlebnis literarisch
verarbeitet. Oder als hätte Lamar ein Buch
des Vaters in seine Gegenwart übernom-
men. fritz göttler
von cathrin kahlweit
D
as schöne deutsche Wort „Wander-
lust“ hat unlängst in Großbritanni-
en einiges Aufsehen erregt, weil die
BBC unter diesem Titel eine erotische Se-
rie mit der australischen Schauspielerin
Toni Colette ausstrahlte, in der es im We-
sentlichen um diverse Formen des Sex
ging. „Wanderlust“ heißt auch eine umfas-
sende Betrachtung der „Geschichte des Ge-
hens“ der US-amerikanischen Kunsthisto-
rikerin, Schriftstellerin und Feministin Re-
becca Solnit. Diese ist, wiewohl schon vor
19 Jahren geschrieben, jetzt erst auf
deutsch erschienen.
Beide Werke haben, außer dem Titel, we-
nig miteinander zu tun, und doch: Die Phi-
losophie hinter der ausführlich erzählten
und expressiv bebilderten TV-Serie und
hinter Solnits epischem Essay, das in Um-
fang und Herangehensweise an eine glän-
zend geschriebene Doktorarbeit erinnert,
stimmt überein: Beide beschreiben die zu-
nehmende Entfremdung von einem natür-
lichen Akt, der, wenn überhaupt, nur noch
zielführend ausgeübt, mit technischen Mit-
teln angereichert oder durch sie ersetzt –
und immer mehr kommerzialisiert wird.
Solnit, die sich lange vor der #MeToo-
Debatte mit Texten zu Frauenfeindlichkeit
und strukturell männlicher Dominanz be-
fasst hatte und derzeit mit dem Essay-
Band „Whose story is this?“ erneut in die
aktuelle feministische Debatte eingreift,
hatte sich dereinst also mit der ihr eignen
Intensität und Gründlichkeit einem ganz
anderen Thema gewidmet: der menschli-
chen Fortbewegung. Die Amerikanerin
sieht in rhythmischen Fortbewegungen
wie Gehen, Wandern, Schreiten ein Mittel,
das den Geist wach und lebendig hält und
zum Denken anregt.
Sie habe, sagt sie, eine „Laiengeschich-
te“ schreiben wollen, weil „Gehen eine
Laienhandlung“ sei, eine „Geschichte al-
ler“. Herausgekommen ist ein Vademekum
von fast 400 Seiten, eng und in kleinen
Buchstaben gesetzt, nicht bebildert, ange-
reichert mit einer Überfülle von Ideen, Bei-
spielen, Verweisen und Romanauszügen.
Teils schwer zu lesen, weil Geduld erfor-
dernd. Aber, wie das Wandern auch, gut zu
bewältigen in Etappen, mit wachem Blick
nach rechts und links, und getrieben von
Entdeckerfreude.
Dabei geht sie das Wandern grundsätz-
lich an: physiologisch, historisch, litera-
risch und politisch. Sie schreibt über Pilger
und Poeten, über Landstreicher und De-
monstranten, über Touristen und Grand
Tours. Sie schildert, wie der revolutionäre
Akt des Marschierens die Politik außer-
halb geschlossener Räume prägte, wie Ge-
hen mehr und mehr von einer Notwendig-
keit zur Befreiung – und später dann zur
Form des gewaltfreien Protestes wurde.
Pars pro toto für die Ideenfülle dieses
Buches sei hier ihr Kapitel „Vom Garten in
die Wildnis“ aufgegriffen, das sie vorwie-
gend anhand von britischen Autoren und
britischen Romanfiguren angeht. Solnit
wertet die Wanderung des Geschwister-
paars William und Dorothy Wordsworth
über die Penninen, ein englisches Mittelge-
birge, als die „Geburt des Wanderns als kul-
turellen Akt, als Teil einer ästhetischen Er-
fahrung“. Zwar seien Menschen immer ge-
gangen, hätten auch Berge bestiegen, aber
hier gehe es um das „Wandern um seiner
selbst willen“.
Sie durchmisst bei ihren Recherchen
Jahrhunderte – und auch hunderte Regal-
meter Wanderliteratur. Sie sucht das Über-
wölbende – und findet dabei, unter ande-
rem, wiederum auch das Weibliche. So be-
schreibt die Universalgelehrte, die Solnit
vor allem ist, welcher emanzipatorische
Akt für Frauen im 18. und 19. Jahrhundert
im Ausbruch aus dem Schutz oder dem Ge-
fängnis von Heim und Garten und der Er-
findung des Spaziergangs lag – und wel-
che neuen Zugänge zu Natur und Ästhetik
die Hinwendung zur langsamen Fortbewe-
gung in der Botanik ermöglichte.
Vor allem für Damen galt das Querfeld-
einwandern damals noch als ungehörig.
Sie hatten sich in Haus und Garten zu er-
tüchtigen und, im besten Falle, in eigens
dafür eingerichteten Galerien zu ergehen.
Hatten hohe Mauern noch die mittelalterli-
chen Gärten umschlossen, so zog es die bes-
sergestellten Frauen – die nicht etwa des-
halb gingen, weil sie sich eine Kutsche
nicht leisten konnten – jedoch bald zuerst
in die natürlich gestalteten englischen
Landschaftsparks, dann aber auch zuneh-
mend in die Landschaft selbst.
Was folgte, war die Erfindung des Land-
schaftstourismus; man fuhr nun hinaus,
um Natur zu sehen und zu erleben. Interes-
se an Landschaft galt als Zeichen von Kulti-
viertheit. Solnit findet dafür wunderbare
Belege in einigen der berühmtesten Roma-
ne der damaligen Zeit, bei Jane Austen et-
wa und bei Thomas Hardy. Austens „Roma-
ne mit ihren eleganten jungen Frauen in
ländlicher Umgebung liefern ein wunder-
volles Register der Wanderpraktiken“,
schreibt sie, und vertieft sich dann liebe-
voll in die Figur der jungen Heldin Marian-
ne Dashwood aus „Verstand und Gefühl“,
die Natur romantisiert und in ihrem Über-
schwang bisweilen lächerlich wirkt.
Ganz anders Elisabeth Bennet in „Stolz
und Vorurteil“, die nicht nur wandert, weil
ihr als junger Dame aus gutem Hause ne-
ben malen, Klavier spielen und schreiben
nicht viel anderes zu tun bleibt, sondern die
sich mit ihrer Wanderlust über alle Konven-
tionen hinwegsetzt. Sie geht, um ihre kran-
ke Schwester zu sehen, drei Meilen zu Fuß,
allein, durch den Matsch. Sie verwandelt
das Gehen in etwas Funktionelles und wird
dafür verachtet. Wandern war für Frauen
in Solnits Darstellung auch eine Emanzipa-
tionsgeschichte.
Dass sich Gehen oder gar Wandern in
der funktionellen, menschenfeindlichen
Moderne aber zunehmend zur in Gruppen
durchgeführten Freizeitbeschäftigung
oder zu einer auf Geräten im Fitnessstudio
absolvierten Ablasshandlung für malträ-
tierte Körper entwickelt hat, findet die pas-
sionierte Geherin Rebecca Solnit furchter-
regend. Ebenso wie die Tatsache, dass sich
moderne Stadtarchitektur des Gehenden,
des Bummelnden, des Passanten zuneh-
mend entledigt.
Wandern, schreibt sie, sei eigentlich eine
„Konstellation im sternenreichem Gewöl-
be der menschlichen Kultur, eine Konstella-
tion aus den drei Sternen Körper, Imaginati-
on und offene Welt“. Diese offene Welt fin-
de man nicht auf den asphaltierten Bürger-
steigen in autogerechten Städten. Sondern
zum Beispiel auf dem Weg in den Lake Dis-
trict in England, in den ihre besorgten Ver-
wandten die liebeskranke Elisabeth Bennet
in Austens „Stolz und Vorurteil“ mitneh-
men wollen. „Was für Aussichten! Welche
Freude! Das gibt mir neues Leben und neu-
en Mut“, ruft die junge Frau beglückt. „Adi-
eu Enttäuschung und Trübsinn. Was sind
Männer gegen Felsen und Berge?“
Rebecca Solnit:Wanderlust. Die Geschichte des Ge-
hens. Übersetzt von Daniel Fastner. Matthes &
Seitz, Berlin2019. 380 Seiten, 30 Euro.
In Gucci-Slippern
Kevin Kwans Roman „Crazy Rich Asians“ ist sagenhaft erfolgreich. Doch unter der Reichen-Freakshow schlummert nur eine sanfte Komödie
Anfangs ist unklar, ob die
No-Name-Chinesin nicht
vielleicht doch Milliardärin ist
Die schwarzen
Löcher des Lebens
James Sallis definiert das Krimi-Genre neu: „Willnot“
Kevin Kwan kennt die Welt der Superrei-
chen aus seiner Zeit in einer Eliteschule
in Singapur. FOTO: IMAGO STOCK
Erbrochenes von Walen
aufs Gesicht aufgetragen wirke
angeblich Wunder
Vom revolutionären politischen
Akt des Marschierens zu einer
Form des gewaltfreien Protestes
Die moderne Stadtarchitektur
entledigt sich des Gehenden, des
Bummelnden, des Passanten
Die Schriftstellerin, Essayistin, Journalistin Rebecca Solnit wurde in Deutschland erst mit ihrem Buch „Wenn Männer
mir die Welt erklären“ (2015) bekannt, in dem das Phänomen des „mansplaining“ ergründet wird. FOTO: GETTY IMAGES
James Sallis:Willnot.
Roman. Aus dem Engli-
schen von Jürgen Bürger
und Kathrin Bielfeldt.
Liebeskind, München 2019.
224 Seiten, 20 Euro.
Wer da mitreisen könnte
Die Geschichte des Wanderns in Kultur und Literatur: auch eine
weibliche Emanzipationsgeschichte, erzählt von Rebecca Solnit
„Ich repariere Dinge,
tue mein Bestes, dass sie wieder
richtig funktionieren.“
DEFGH Nr. 183, Freitag, 9. August 2019 (^) LITERATUR HF2 13