Süddeutsche Zeitung - 09.08.2019

(Frankie) #1

W


ie jedes Jahr kommt so ein
Sommerurlaub plötzlich,
und ich weiß nicht mehr ge-
nau, wie das Leben ist, wenn
man es einfach nur leben darf. Stunden-
lang fahre ich in den europäischen Süden,
beobachte das politische Treiben nun aus
der Ferne: die nächste Empörungsschlei-
fe, kollektive Erregung, all das, wir nen-
nen es gerne den „öffentlichen Diskurs“.
Warum mir dazu gerade Peter Sloterdijk
einfällt, der schon um die Jahrtausend-
wende in den Massenmedien wetterte, es
würde aufgrund der Massenmedien zu
viel geredet, weiß der Himmel. Womög-
lich, weil er in irgendeinem Interview die
folgende Frage stellte: Was soll das sein,
Gesellschaft? Dieser Erregungskörper,
der sich in ständig neue Höhen treibt?
Und was hat das mit einem selbst zu tun?
Menschen, die es gut mit sich meinen,
nehmen Bücher mit ans Meer, die sie ab-
lenken. Ich, in meinem Gesellschafts-
wahn, nehme Theodor W. Adorno mit. „Mi-
nima Moralia“, als koste Wiederlesen weni-
ger Hirnzellen vor Türkisblau. Und wäh-
rend andere sich vor ihren wassertaugli-
chen Kameras in ihren pinken Plastikfla-
mingos zum Fotomotiv drapieren, lese
ich: „In der individualistischen Gesell-
schaft jedoch verwirklicht nicht nur das
Allgemeine sich durch das Zusammen-
spiel des Einzelnen hindurch, sondern die
Gesellschaft ist im Wesentlichen Sub-
stanz des Individuums.“ Da ist sie also ein-
gezogen in mich, diese Gesellschaft, und
wenn in diesem Satz auch nur etwas Wahr-
heit zu finden ist, so muss diese Gesell-
schaft ihrer selbst unfassbar müde sein.
Ich bin ja auch Gesellschaft. Und ich bin
massenmedienerregungsmüde.


Ein sich selbst wiederholender Reflex
wird derzeit als Diskurs bezeichnet. Jedes
Mal derselbe Einschlag, kurz darauf der-
selbe Ausschlag. Karussellfahren mit der
Vergangenheit. Warum denke ich ständig:
Alles schon gehört? Beispiel gefällig? Wie-
der attackiert ein Politiker die Deutsch-
kenntnisse von Einwanderern. Diesmal
die der Kinder. Ich möchte seinen Namen
nicht nennen, weil solche „Thesen“ nur
Sprungbretter sind, der Versuch, der Öf-
fentlichkeit seinen Namen einzuprägen.
Ich werde mir diesen Namen nicht ein-
prägen. So wie ich mir vor Jahren nicht
den Namen eines anderen Politikers merk-
te, der im Sommerloch behauptete, Aus-
länder hätten selbst nach Jahrzehnten
nicht mehr als knapp dreitausend Worte
in ihrem deutschen Wortschatz vorzuwei-
sen. Mein Vater hat daraufhin den ganzen
Sommer lang deutsche Worte vor sich hin-
geflucht, Worte, die so ein Politiker ver-
mutlich in keiner Fremdsprache kennt.
Radkappe, fluchte er. Und ich grinste.
Einer, dachte ich damals, der vermutlich
keine zweite Sprache auf dieser Welt be-
eindruckend zu sprechen vermag, profi-
liert sich über das Pidgin-Deutsch meiner
Eltern. Wann hat Deutschland diesen Poli-
tikstil auf Kosten von Menschen, die Men-


schen sind und nicht Mittel zur Erlangung
eines politischen Profils, endlich satt? Wie
lange will man billige Diskurse dieser Art
noch als Debatten bezeichnen? Wie lange
wollen selbst jene, die solche „Vorstöße“
wohlmeinend bekämpfen, diesen platten
Strategen Öffentlichkeit verschaffen? Bis
wir an der Staatsspitze ein Großmaul ha-
ben wie Donald Trump?
Eine weitere Runde Rassismus-Debatte
darf nicht fehlen, Clemens Tönnies sei
Dank. Die regelmäßige Erniedrigung von
Menschen mit dunkler Hautfarbe, auf die
prompt die übliche naiv anmutende Run-
de deutscher Selbstverortung folgt: Was
ist überhaupt Rassismus in Deutschland?
In den USA sei das ja klar. Natürlich kom-
men dabei kaum jene zu Wort, die von die-
sem sogenannten Rassismus betroffen
sind. In einer Woche, in der Nachrufe auf
Toni Morrison, die erste schwarze Nobel-
preisträgerin, geschrieben werden, erklärt
Kai Gniffke im Kommentar der „Tages-
schau“ den Unterschied zwischen einer
dummen These und Rassismus, ohne zu er-
hellen, warum eine dumme These nicht
rassistisch sein kann. Oder warum auch
nette Menschen Rassisten sein können.
Toni Morrisons Tod müsste alle daran
erinnern, aus welcher Gedankentiefe un-
sere Gesellschaften schöpfen könnten. Ei-
ne von Morrisons unvergesslichen Analy-
sen über Rassismus lautet: „Die Funktion,
die sehr schwerwiegende Funktion von
Rassismus, ist Ablenkung. Er hält dich da-
von ab, deine Arbeit zu tun. Er lässt dich
immer wieder erklären, was der Grund
deines Daseins ist. Jemand sagt, du hast
keine Sprache, und du verbringst zwanzig
Jahre damit, zu beweisen, dass du sie hast.
Jemand sagt, dein Kopf sei nicht richtig ge-
formt, also findest du Wissenschaftler,
die daran arbeiten, zu beweisen, dass er es
doch ist. Jemand sagt, du hättest keine
Kunst, also gräbst du das aus. Jemand
sagt, du hast keine Königreiche, also
gräbst du auch sie aus. Nichts davon ist
notwendig. Es wird immer weitergehen.“
Die rassistischen Dauerschleifen zersä-
gen den Zusammenhalt: Sie bedienen die
einen Wähler, während sie die anderen
verraten. Wer über Kinder reden will, die
noch kein Deutsch sprechen, muss über
ihr Grundrecht auf Bildung reden und die
besten Bedingungen fordern, unter denen
diese Kinder lernen können. Die mediale
Aufmerksamkeit darf sich nicht auf die Er-
regungsschleifen über twittertaugliche
Thesen richten, sondern muss sich dem
Kampf um Ideen widmen, die großen Fra-
gen unserer Zeit angehen. Wer den Profil-
neurotikern heftig widerspricht, tut einer-
seits gut daran, doch letztlich wälzt er sich
mit ihnen im Schlamm.
„Wer fliegen will, muss den Mist able-
gen, der ihn hinabzieht“, schrieb Morri-
son. Die Mutlosigkeit der Debatten ist das
herausragende Merkmal der ermüdeten
Gesellschaft, die nicht fliegen will.

BILD: ULRIKE STEINKEE

Jagoda Marinić, 41,
ist Schriftstellerin.
Ihre Kolumne erscheint alle
vier Wochen freitags
an dieser Stelle.

I


taliens Ministerpräsident Giuseppe
Conte hat soeben eine Vertrauensab-
stimmung im Parlament überstan-
den. Nach über einem Jahr schwieri-
gen Austarierens zwischen den beiden
übermächtigen Vize-Premierministern
Matteo Salvini und Luigi Di Maio bleibt es
also vorerst bei der „Frankenstein-Koaliti-
on“. Dieses Spottwort kursiert, seit im Ju-
ni 2018 die in Süditalien besonders erfolg-
reiche Protestbewegung der Fünf Sterne
mit der früher so süditalienfeindlichen Le-
ga eine gemeinsame Regierung bildet.
Zum ersten Mal in der Geschichte der itali-
enischen Republik beschlossen Verhand-
lungspartner, auf der Grundlage eines re-
gelrechten Koalitionsvertrags zu regie-
ren. Doch politisch und ökonomisch lie-
gen die Koalitionsparteien weit auseinan-
der, so dass seither trotzdem ein Dauer-
konflikt um politische Prioritäten brodelt.
Auch wenn sich jeden Tag ein schein-
bar unerwartetes Szenario eröffnet, ist
längst nicht alles neu. Schaut man auf die
Entwicklungen der vergangenen 30 Jah-
re, so lassen sich Muster erkennen. Der Le-
ga-Chef und Innenminister Matteo Salvi-
ni mag kometenhaft aufgestiegen sein.
Doch fast nichts an ihm ist originell. Er hat
glänzend gelernt von dem populistischen
Medientycoon Silvio Berlusconi, dessen
politisches Erbe er anzutreten versucht.

Mit guten Chancen, denn seit dem Fall
der Mauer, dem Untergang der kommu-
nistischen Regime in Osteuropa und dem
Ende des traditionellen Parteiensystems
im eigenen Land sind die Italiener auf der
Suche nach der verlorenen Sicherheit der
Nachkriegsjahrzehnte. Schon der Berlu-
sconismus war kein Neuanfang, auch
wenn er sich 1994 als solcher ausgab. Neu
war nur die Konstellation der Parteien, die
damals auf Regierungsniveau aufstiegen:
das Dreigestirn aus Berlusconi-Partei, au-
tonomiebeschwörender Lega Nord und
Neofaschisten. Für Berlusconis Wahlsieg
war es essenziell, den Mussolini-Faschis-
mus zu rehabilitieren. In einem über die
Medien geführten Kulturkampf gelang es
ihm, die neue Deutung der Vergangenheit
gegen das antifaschistische Mehrheitsmi-
lieu durchzusetzen und die politische Aus-
einandersetzung auf einen Konflikt zwi-
schen zwei angeblich gleichberechtigten
Blöcken zu reduzieren.
Berlusconis Ära ging 2011 zu Ende.
Doch viele Elemente des Berlusconismus
leben fort, von denen seine Nachfolger
profitieren können: Das Wahlgesetz
zwingt weiterhin zur Bildung von Allian-
zen und großen heterogenen Blöcken.
Und das Mitte-rechts-Bündnis integriert
weiterhin den rechtsradikalen Rand. Um
sich als Spitzenkandidat im eigenen Lager
gegen Berlusconi durchzusetzen, ist Salvi-
ni vor einem Jahr aus dem Mitte-rechts-
Block ausgeschert und verbündete sich
mit den Fünf Sternen. Für ihn hat sich das
ausgezahlt, für seinen Partner weniger.
Die Fünf Sterne sind angetreten, um
Korruption, Verschwendung und die Aus-

höhlung des Sozialstaats zu stoppen.
Zwar haben schon die Mitte-links-Regie-
rungen 2013 bis 2018 einen gewissen Rich-
tungswechsel versucht, aber die struktu-
rellen Probleme des Landes haben sich
seitdem eher verschärft. Die Kaufkraft ei-
nes Teils der Bevölkerung ist gesunken,
doch die Staatsschulden sind seit 2010
deutlich gestiegen. Die Auswirkungen der
Finanzkrise, die Rentenreform der Exper-
tenregierung Mario Montis 2012, die Zu-
nahme prekärer Arbeitsverhältnisse und
die Aufdeckung etlicher Missstände ha-
ben viele Enttäuschte zu Protestwählern
der Fünf Sterne werden lassen. 2013 und
erneut 2018 wurden sie stärkste Partei.
Die Partei bedankte sich mit einem neu-
en Grundeinkommen und vorgezogenem
Renteneintrittsalter. Beides ändert je-
doch wenig an der strukturellen Krisensi-
tuation mit Nullwachstum, alternder Be-
völkerung und Abwanderung der akade-
misch gebildeten Jugend ins Ausland.
Und: Ihre eigenen digital-demokrati-
schen Strukturen behindern die Fünf Ster-
ne im politischen Alltag oft.
Salvini gewinnt derweil täglich an An-
hängern dazu. Er hat die Lega erfolgreich
zu einer nationalen Partei weiterentwi-
ckelt. Die Xenophobie, die früher dem itali-
enischen Süden galt, trifft nun ausländi-
sche Flüchtlinge. Salvini tritt zwar hemds-
ärmeliger auf als Berlusconi, doch präsen-
tiert er sich mit publikumswirksamen
Sprüchen ebenfalls als der große Macher.
Sein Ruf nach Reduzierung der Einkom-
mensteuer für die Mittelschicht ist ein
gern gehörter Sirenengesang, zumal vom
Lega-Chef bisher kein Programm zur in-
tensiveren Bekämpfung von Steuerhinter-
ziehung zu vernehmen war. Auch Berlu-
sconi hatte 2001 Steuersenkungen ver-
sprochen, dann aber vor allem die Strafen
für bestimmte Finanzdelikte reduzieren
lassen.
Den volkstümlichen Stil Salvinis
scheint mehr als ein Drittel aller Italiene-
rinnen und Italiener zu mögen. Sie sehen
einen gefühlt starken Mann, der sich mit
nacktem Oberkörper am Strand fotogra-
fieren lässt und das nationale Ego auf-
putscht, indem er gegen die Dublin-III-Re-
geln polemisiert. Dann küsst Salvini vor
den Kameras den Rosenkranz, um für
Wahlerfolge zu danken. Das alles lenkt
von den Problemen des Landes ab. Auch
von den Korruptionsskandalen, in die Ex-
ponenten der Lega verstrickt sind.
Die Rettung von ausländischen Migran-
ten nach Italien ist nun mit drakonischen
Strafen belegt, dank Salvinis neuem „Si-
cherheitsgesetz“. Ob sich damit auch die
einheimische organisierte Kriminalität
wirksam bekämpfen lässt? Offenbar ver-
traut der Innenminister auch hierfür auf
die Hilfe der Jungfrau Maria. Die braucht
er auch, denn im Herbst muss ein Nach-
tragshaushalt gefunden werden, um die
drohende automatische Mehrwertsteuer-
erhöhung von 22 auf 25,5 Prozent abzu-
wenden. Die wäre dann der eigentliche
Steuerschock für die Italiener. Ihre Hoff-
nungen auf einen neuen Solidarpakt könn-
ten sich als trügerisch erweisen.

Der Historiker und Italienforscher Lutz Klinkham-
mer lebt und arbeitet in Rom.

DEFGH Nr. 183, Freitag, 9. August 2019 (^) MEINUNG 5
STEINKES ANSICHTEN
Leben im Überfluss
Die FünfSterne versprachen
soziale Sicherheit. Doch dafür
ist ökonomische Stabilität nötig
Aufreger
Debatten kreisen heute um verletzende Tabubrüche,
nicht aber um die wirklich wichtigen Fragen, vor denen
die Menschen des 21. Jahrhunderts stehen
VON JAGODA MARINIĆ
Maria hilf
SilvioBerlusconi hat Bündnisse mit Ultrarechten
in Italien salonfähig gemacht. Davon profitiert nun
Matteo Salvini. Und treibt das Land vor sich her
VON LUTZ KLINKHAMMER
Die Funktion des Rassismus ist
Ablenkung,sagte die Literatin
Toni Morrison. Sie hat recht
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