Die Zeit - 15.08.2019

(Tuis.) #1

2 POLITIK 15. August 2019 DIE ZEIT No 34


I


talien hat seit dem Ende des Zweiten
Weltkriegs zahllose Regierungskrisen und
65 Regierungen erlebt. Doch noch nie gab
es eine Regierungskrise im sommer. Mitte
August gehen die Italiener traditioneller-
weise in den urlaub. Ferragosto ist unan-
tastbar, normalerweise. Doch Italien er-
lebt außergewöhnliche Zeiten, und deshalb gibt es
nun eine Regierungskrise, möglicherweise sogar
einen Regierungssturz mitten im sommer.
Verantwortlich dafür ist Matteo salvini. Der
Innenminister und Chef der Lega will ein Miss-
trauensvotum gegen den eigenen Premierminister,
giuseppe Conte, erzwingen. Wenn Conte stürzt,
hätte die fragile Koalition von linken und rechten
Populisten gerade mal 14 Monate gedauert. seit
Juni 2018 haben die Lega und die Fünf sterne Ita-
lien gemeinsam regiert (siehe Kasten). In der kom-
menden Woche kommt das Parlament nun zu einer
sondersitzung zusammen. schon im Oktober, hofft
salvini, könnte es Neuwahlen geben. Er selbst will
dann Ministerpräsident werden.
Bereits in dieser Woche mussten die Abgeord-
neten aus dem urlaub zurück nach Rom eilen. Die
italienischen Zeitungen veröffentlichten genüsslich
Bilder von Politikern, die vom strand oder aus den
Bergen in die Hauptstadt kamen, leger gekleidet,
braun gebrannt. salvini hatte einige tage zuvor in
seiner typisch brachialen sprache gesagt: »Ferragos-
to? Die Abgeordneten sollen gefälligst ihren Hin-
tern bewegen!«
Er selbst weilte da schon wahlkämpfend am
strand oder besser: an den stränden Italiens. Kaum
hatte er die Regierungskrise ausgelöst, ging er auf
seine Beach-tour. Er will einmal die Küsten Italiens
rauf- und einmal runterfahren. Besondere Aufmerk-
samkeit widmet er dabei dem süden, dort ist seine
Partei noch nicht so stark wie im Norden, wo sie in
den aktuellen umfragen teilweise über 50 Prozent
liegt. Im süden erwartet salvini sich noch Wachs-
tum. Deshalb schwimmt er dort im Meer, fährt
Kanu, präsentiert seinen nackten Oberkörper am
strand inmitten von Fans und schaulustigen.
Er ist nicht so sportlich wie sein politisches Vor-
bild, der russische Präsident Wladimir Putin, aber
selbst aus seinem Bauch macht salvini eine tu-
gend. stolz sagt er: »Ich gehe nicht ins Fitness-
center, und wenn ich ein Hörnchen mit Creme-
füllung sehe, dann greife ich zu.« Ich bin, das ist
salvinis Botschaft, einer von euch – mit allen
schwächen und stärken.
um zu verstehen, warum immer mehr Italiene-
rinnen und Italiener die radikal rechte Lega unter-
stützen, muss man das Phänomen salvini betrach-
ten. Dieser macht Politik mit vollem Körpereinsatz,
nichts scheint ihm peinlich zu sein, er ist perma-
nent in Bewegung. und je lebenspraller der Chef
der Lega erscheint, desto verknöcherter wirken
seine gegner.
tatsächlich ringen die Vertreter der anderen Par-
teien in diesen tagen der Krise erkennbar um Fas-
sung. sie stecken die Köpfe in den Räumen des
Parlaments zusammen, beraten endlos und spre-
chen dann in gewundenen sätzen, die ein Nicht-
poli ti ker kaum verstehen kann. Allein dadurch be-
fördern sie salvinis implizite Botschaft: Die anderen
treffen sich in düsteren Hinterzimmern, ich hinge-
gen bin bei euch, im hellen tageslicht; die anderen
mauscheln, während ich offen meine Absichten
kundtue. Am tag nachdem er die Regierungskrise
ausgelöst hatte, sagte salvini: »Ich bitte die Italiener
um die ganze Macht!«
soll man salvini nachgeben und möglichst bald
Wahlen ausrufen? Oder soll man versuchen, eine
andere Regierungsmehrheit zu finden, etwa indem
sich Fünf sterne und sozialdemokraten verbünden?
Immerhin steht im Herbst die Verabschiedung des
neuen Haushalts an; immerhin hat dieser Haushalt
über Italien hinaus für die ganze Euro-Zone große
Bedeutung; immerhin liegt salvinis Lega in den
umfragen zwischen 36 und 40 Prozent. Ist es da
besser, auf Zeit zu spielen oder eine schnelle Ent-
scheidung zu erzwingen? Bricht die populistische
Welle, wenn man salvini eine Zeit lang vor den to-
ren der Macht hält, oder schwillt sie dann nur noch
weiter an? Darüber sind sich salvinis Konkurrenten
nicht einig. Bei den so zial demokraten könnte der
streit sogar zur spaltung der Partei führen.
und salvini drängt und drängt. Nach jedem Bad
im Meer steigt er aus den Fluten, wird von Mikro-
fonen umringt und sagt: »sie kleben an ihren ses-
seln. sie haben Angst vor dem italienischen Volk!«


Salvini sucht Verbündete, die
noch weiter rechts stehen als er


Es ist die klassische Argumentationsfigur des Popu-
lismus. Hier das gesunde, ehrliche Volk, dort die
machtgierigen Eliten. salvini ist nicht der erste Ita-
liener, der sie verwendet. 1994 trat ein Mann auf
die politische Bühne, der ähnlich argumentierte:
silvio Berlusconi. Er präsentierte sich als Nicht-
poli ti ker, als unternehmer, der den Berufspoliti-
kern Beine machen werde. In seinen Augen waren
sie nichts anderes als Angehörige einer parasitären
Kaste, die den hart arbeitenden Italienern das Le-
ben schwer machte. Berlusconis Botschaft verfing.
Viermal wurde er vom Parlament zum Minister-
präsidenten gewählt. Bei drei Wahlen glaubte eine
relative Mehrheit der Italiener, er werde aufräumen
und sie von den Fesseln befreien, die ihnen die
Politik angelegt habe.
Jahre später kam der Anti-Eliten-Populismus von
links, nämlich vom jungen sozialdemokraten Mat-
teo Renzi. Er bezeichnete sich selbst als rottamatore,
als »Verschrotter«. Auch er versprach, den italieni-
schen Augiasstall auszumisten. Im Februar 2014
wurde er zum Ministerpräsidenten ernannt, drei
Monate später bekam seine Partei bei der Europa-
wahl 40 Prozent der stimmen. Die Italiener hofften
damals auf den Ausmister Renzi, so wie sie heute
ihre Hoffnungen auf den Berserker salvini setzen.
2016 trat Renzi zurück, nachdem er ein Referen-
dum über eine Verfassungsreform verloren hatte.


genauso schnell, wie die Italiener ihn hochgehoben
hatten, hatten sie ihn auch wieder fallen lassen.
Noch während Renzi regierte, erstarkte eine Partei,
die den Anti-Eliten-Diskurs weiter verschärfte. Die
Fünf-sterne-Bewegung (M5s) von Beppe grillo. sie
führte im Internet und auf den Plätzen Italiens jah-
relang einen gnadenlosen, mit verbaler gewalt auf-
geladenen Feldzug gegen »die da oben«. Der Erfolg
war durchschlagend. Bei der Parlamentswahl im
März 2018 wurde M5s mit 33 Prozent die mit Ab-
stand erfolgreichste Partei Italiens.
Berlusconi, Renzi, grillo – es ist ein bekanntes
stück, das salvini aufführt. Doch gibt es beunruhi-
gende unterschiede. salvini hat den Populismus ra-
dikalisiert und weit nach rechts verschoben. Er be-
dient sich zusehends aus dem symbolischen Arsenal
des italienischen Faschismus. Vor wenigen Monaten
trat er etwa auf einem Balkon im Rathaus von Forlì
auf und sprach zu einer auf dem Platz versammelten
Menge. Auf diesem Platz waren 1944 auf direkten
Befehl Mussolinis Partisanen an Laternenpfählen
aufgehängt worden. Die Laternenpfähle hat man
nach Kriegsende als Erinnerung an dieses Verbre-
chen im Originalzustand belassen. Aus Respekt vor
den Opfern hatte seit dem Krieg kein Politiker den
Balkon von Forlì betreten, um eine Rede zu halten.
salvinis tabubruch war kalkuliert. Er sucht Ver-
bündete, die noch weiter rechts stehen als er, zum
Beispiel die kleine neofaschistische Partei Fratelli
d’Italia. Nach Neuwahlen könnte er sie als Mehr-
heitsbeschafferin brauchen.
Wenige tage vor dem Auftritt in Forlì war in
einem rechtsextremen Verlag ein Interviewbuch mit
salvini erschienen. Der Verleger ist ein bekennender
Faschist. salvini reagiert auf entsprechende Kritik
relativierend oder mit beißendem spott. In einem
Facebook-Video ist er auf einem Dach in Roms In-
nenstadt zu sehen. Er lobt die »wunderbare« Haupt-
stadt Italiens. Dann zeigt er in Richtung des stadt-
viertels EuR. Es war von den Faschisten als Modell-
viertel erbaut worden. salvini sagt: »Dort drüben ist
das wunderbare Viertel EuR. Wenn ich darauf zei-
ge, dann werden die Leute wieder sagen: ›salvini ist
ein Faschist!‹« Dann lacht er.

Verbitterung und Hass sind in der
italienischen Gesellschaft weit verbreitet

Auf einer Kundgebung im sizilianischen syrakus
sagt salvini: »sie behaupten, dass wir Faschisten
sind. Aber nein, wir sind nur stolz, Italiener zu sein!«
und dann ruft er wie ein Rocksänger laut in die
Menge: »sind wir stolz, Italiener zu sein?«, und es
schallt zurück: »Jaaa!«
Es war nicht salvini, der mit der Relativierung des
italienischen Faschismus begonnen hat. 1994 kam
silvio Berlusconi an die Macht, indem er eine Koali tion
mit der Alleanza Nazionale bildete, einer Partei, die
ihre Wurzeln im italienischen Faschismus hatte. Als ein
ausländischer Journalist bei einer Pressekonferenz
Berlusconi fragte, ob es nicht problematisch sei, mit
einer Partei faschistischer Herkunft zu koalieren,
herrschte Berlusconi ihn an: »Der Faschismus ist längst
tot! sie sind böswillig! sie sind böswillig!«
Dieser Wutausbruch stand am Anfang einer
Normalisierung des italienischen Faschismus. salvi-
ni setzt das Werk fort. und es fällt ihm leicht, weil er
einen propagandistischen Rohstoff zur Verfügung
hat, den Berlusconi noch nicht hatte: die Migration.
Jedes schiff, das mit Migranten an Bord auf Ita-
liens Küsten zusteuert, benutzt salvini als Brand-
beschleuniger. Besonders deutsche Hilfsorganisa-
tionen wie sea-Watch sind für ihn willkommene
Wahlkampfhelfer. sie dienen ihm zur Verhetzung
des ita lieni schen Volkes. sein ton wird immer dro-
hender. Bei der Veranstaltung in syrakus unterbre-
chen gegendemonstranten seine Rede. salvini ruft
in die Menge: »Wir machen weiter, auch wenn uns
diese lästigen Mücken im schlafzimmer stören
wollen!« Jeder weiß, was man mit Mücken im
schlafzimmer macht.
salvini ist Nutznießer eines seit Jahren anhalten-
den und politisch beförderten gesellschaftlichen
trends: der Banalisierung und Relativierung des
schrecklichen. Verbitterung und Hass haben sich
wie ein gift in der italienischen gesellschaft ausge-
breitet. Das renommierte Centro studi Investimenti
sociali (CENsIs) gibt jährlich ein dickes Buch zum
Zustand der italienischen Nation heraus. In der
Ausgabe für das Jahr 2018 ist zu lesen: »Der Hater
ist kein anonymer Mensch mehr, der in die tasten
greift, er ist zu einem anerkannten Protagonisten des
Alltags geworden.«
salvini ist nicht der Erste, der begriffen hat, dass
»da draußen« vor den Regierungspalästen Wut
herrscht, er ist nicht der Erste, der sie sich zunutze
macht. Doch keiner ist bisher so weit gegangen wie
er. Als er die Regierungskrise auslöste und Neuwah-
len forderte, erinnerten viele Kommentatoren da-
ran, dass dem Innenminister eine solche Entschei-
dung gar nicht zustehe. Laut Verfassung kann nur
der staatspräsident das Parlament auflösen und
Wahlen ausrufen. salvini weiß das gewiss. Aber er
tut so, als spiele das keine Rolle, als müsse sich der
staatspräsident wie ein Nebendarsteller seinem Wil-
len beugen, weil die Lega in umfragen bei fast 40
Prozent liegt.
Das ist mehr als nur ein populistischer taschen-
spielertrick. salvini behauptet nämlich, er habe das
Volk auf seiner seite – und das Volk sei selbstre-
dend der souverän. Die gewaltentrennung der re-
präsentativen Demokratie erscheint nur noch wie
lästiges Dekor.
Auch in diesem Furor gegen die demokratischen
Institutionen ist salvini nicht allein. Die Wut wird von
anderen politischen Kräften geteilt. Als sich staatsprä-
sident sergio Mattarella im Mai 2018 weigerte, das von
den Fünf sternen und der Lega gebildete Kabinett
ohne Änderungen abzusegnen, forderten die Fünf
sterne die Absetzung des Präsidenten. Ihr Aufruf an
die Italiener, in Massen nach Rom zu kommen, war
eine unverhohlene Anspielung: Benito Mussolini
hatte im Oktober 1922 mit einem »Marsch auf Rom«
die Macht an sich gerissen.

Fotos: Shutterstock [M]; Augusto Casasoli/A3/Contrasto/laif (Ausschnitt, u.)

Kurze Bilanz einer ungleichen Koalition


Am 1. Juni 2018 übernehmen die
Fünf-sterne-Bewegung und die Lega
in Rom die Regierungsgeschäfte.
Auf dem Papier sind die Fünf sterne
der viel stärkere Partner. Bei der
vergangenen Wahl hat sie 33 Prozent
erreicht, die Lega 17 Prozent. Premier-
minister wird der parteilose Giuseppe
Conte. Luigi Di Maio vom M5s wird
Arbeits- und Wirtschaftsminister sowie

Vizepremier, Matteo salvini Innen-
minister und ebenfalls Vizepremier.
Im september 2018 führt die
Regierung das sogenannte Bürger-
einkommen ein, eine Form von
sozialer grundsicherung. gleichzeitig
macht sie eine Rentenreform der
Vorgängerregierung rückgängig, die
das Rentenalter angehoben hatte. Auf
Druck der Lega wird auch ein neues

Sicherheitsgesetz verabschiedet. Ziel
ist es, die Migration nach Italien zu
erschweren. Wer Migranten bei der
Einreise hilft, dem drohen hohe
geldstrafen.
seit Antritt der Regierung vor rund 14
Monaten sind die schulden Italiens
weiter gestiegen, die Schuldenquote
liegt derzeit bei rund 132 Prozent des
Bruttosozialprodukts.

Weil Salvini es so will, öffnet das italienische Parlament (oben) jetzt auch im Sommer

»Ich bitte die


Italiener um die


ganze Macht«


Immer unverhohlener bedient sich Innenminister Matteo salvini bei den symbolen


des italienischen Faschismus. schon bald könnte er Regierungschef werden. Wie konnte


es nur so weit kommen? VON ULRICH LADURNER

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