Die Zeit - 15.08.2019

(Tuis.) #1

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Wer Kinder erzieht, kennt den Moment: Man eilt über


die Straße, auf dem Weg von A nach B. Sie aber bleiben
stehen, um zuzuschauen und zu bewundern: Wie Bau-


arbeiter das Pflaster aufreißen. Wie Gärtnerinnen einen
überhängenden Ast absägen. Wie der Busfahrer das große


Lenkrad dreht.
Oder wie der Trupp der Straßenreinigung die Reste eines


Wochenendes beseitigt. Pizzakartons, Tüten, Scherben,
Servietten. Mein Sohn und ich begegneten den orange


gekleideten Männern an einem Montagmorgen auf dem
Weg zum Kindergarten. Ihre Kehrmaschine fegte mit gro-


ßen Bürsten über den Gehsteig. Mit Greifzangen lasen sie
geduldig die Kronkorken auf. Mein Sohn war sich sofort


sicher: »Das will ich auch werden. Ein Putzmann.«
Damit ist er nicht allein. Ganz ähnliche Berufswünsche


haben die Kinder einer Berliner Kita, die ich befrage.
»Müllmann«, findet ein Junge toll.


»Krankenwagenfahrer«, sagt ein Dreijähriger.
»Eine Baumeisterin«, das Mädchen mit den dunklen Zöpfen.


»Eine Ärztin oder eine Polizistin«, ihre blonde Freundin.
»Oder ich baue eine Rakete, die zum Mars fliegt.«


»Ein Busfahrer«, sagt ein Vierjähriger mit Micky- Maus-
T-Shirt. »Ich drücke auf den Knopf. Türen auf. Los!«, ruft er.


Kleine Kinder haben großen Respekt vor Berufen, de-
ren Nutzen und Sinn sofort einleuchtet: Straßen kehren,


Brot backen, Züge steuern, Diebe fangen, Feuer löschen.
Handwerksberufe wie Schreiner, Maurer oder Koch, aber


auch Tierpflegerin, Polizistin und Lehrerin landen in Be-
fragungen unter Grundschulkindern regelmäßig auf den


vorderen Plätzen. Trotzdem waren die Klagen aus diesen
Berufen zuletzt unüberhörbar.


Die Feuerwehr sucht mit großen Werbekampagnen Nach-
wuchs. Bäckereien finden keine Auszubildenden. Es fehlen


Klempnerinnen, Kellner, Köche. Selbst bei den Lokfüh-
rern, einem der klassischen Kindertraumjobs, dauerte es


zuletzt im Schnitt 193 Tage, bis ein freier Ausbildungs-
platz besetzt werden konnte. Die Bahn musste kürzlich


Verbindungen streichen, weil knapp 1000 Lokführer-
stellen nicht besetzt waren. Und weil geschätzte 2500


Schwimmmeister fehlen, fielen in diesem Sommer Kurse
aus, wurden Sprungtürme gesperrt und ganze Freibäder


geschlossen. Kliniken müssen Betten leer stehen lassen
und Patienten abweisen, weil es an Pflegern mangelt – ins-


gesamt gut 15.000.
Handwerkspräsident Hans Peter Wollseifer forderte Ab löse-


zah lun gen, falls eine Nachwuchskraft nach der Lehre den
Betrieb wechseln will – fast wie bei Profifußballern.


Im Frühjahr veröffentlichte die Bayerische Landesbank einen
Werbespot, der – hat man diese Nachrichten im Hinter-
kopf – vollkommen realitätsfern wirkte: Wie bei der Show
1, 2 oder 3 sprang eine Gruppe Kleinkinder in Kreise, auf
denen ihr Wunschberuf geschrieben stand – »Feuer wehr«,
»Was mit Tieren«, »Raumfahrt«. Darauf die getragenen
Worte des Sprechers: »Kinder haben Träume, was ihre Zu-
kunft betrifft. Doch leider die falschen.« Dann simulierte
der Spot Bewerbungsgespräche der Bank: auf Ledersesseln
die Kleinkinder, auf der anderen Seite, überzogen dargestellt
mit Klemmbrett und strengem Kragen, eine Interviewerin
in der Rolle der Traumzerstörerin. »Hast du schon mal gese-
hen, wie ein Tierpfleger Home-Office macht?«, fragt sie ein
Mädchen. Das Kind verneint. Das sei der Unterschied zur
Bank, wird es informiert. Ritter kämpften früher, erfährt
ein Junge, der Ritter oder Feuerwehrmann werden will.
Ob er wisse, was das Gegenteil von früher sei? »Zukunft.
Und weißt du, wo man eine Zukunft hat?« Weiß er nicht,
lernt es aber: bei der Bank. Die Empörung über den Spot
war groß – dabei wird es genau seine Absicht gewesen sein,
das Image des zynischen Bankers zu persiflieren.
Die eigentlich interessante Diskussion, die der Spot hätte
auslösen können, fand aber bei aller Kritik nicht statt. Denn

der Witz ist doch: Die Werbung zielte an der Wirklichkeit
vorbei. Die allermeisten Kinder brauchen überhaupt nie-
manden, der das Arbeiten in einer Bank anpreist. Über die
Hälfte jedes Jahrgangs beginnt ein Studium. Die beliebtes-
ten Fächer sind Betriebswirtschaftslehre, Jura und Informa-
tik. Wenn die Kleinen groß sind, landen sie wie von selbst
bei der Bank oder im Büro statt auf dem Feuerwehrwagen
oder in der Backstube. »Verkaufsberufe und Büroberufe ste-
hen bei beiden Geschlechtern hoch im Kurs«, bilanziert die
Arbeitsagentur in ihrem Ausbildungsreport 2018. Irgend-
wann zwischen Kita und Schulabschluss scheinen die frü-
hen Berufswünsche zu verblassen. Warum ist das so?
Unterhaching, direkt neben dem Sta dion der Spielvereini-
gung. Bayerisches Boomland. Die Mittelschule sieht aus wie
aus einem Prospekt. Auf dem Schulhof wird Obst verteilt.
Die Eingangshalle ist hell, die Flure sind sauber, die Türen
aus hellem Holz. Das ist der Schauplatz, an dem Serkan En-
gin heute seinen Kampf führt. In den Wochen zuvor war er
an Schulzentren in der Münchner Innenstadt, an Realschu-
len im Umland, in Berufsvorbereitungsklassen, bei Maßnah-
men der Agentur für Arbeit. Engin, heute ausnahmsweise
nicht im Anzug, sondern der Hitze wegen in schwarzer Hose
und Hemd, »casual«, wie er es nennt, ist ein ausgesprochen
freundlicher Mann, einer, der mitreißt, motiviert.

Allein in Bayern blieben zuletzt 70 0 0 Lehrstellen fürs


Handwerk unbesetzt, in ganz Deutschland waren es 17.0 0 0

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