Die Zeit - 15.08.2019

(Tuis.) #1

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Nach einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft


aus dem Jahr 2016 verdienen Hochschulabsolventen im
Schnitt 50 Prozent mehr als Arbeitnehmer mit Berufsaus-


bildung. Das Bild verfeinert sich, wenn man nach Fächern
und Qualifikationen unterscheidet. So erreichen Meister


durchaus die Gehälter von Bachelorabsolventen. Aber der
Grundbefund bleibt. In Gehaltstabellen, die das mittlere


Einkommen von Angestellten vergleichen, landen vor al-
lem akademische Berufe vorn: die Oberärztin, der Fonds-


manager, die Patent-Ingenieurin oder der Justiziar. Ganz
hinten Ausbildungsberufe wie Koch, Friseur, Kraftfahrer,


Zahnarzthelferin oder eben Bäcker.
Julien Busch hat im ersten Lehrjahr 450 Euro brutto ver-


dient. Damals war er noch in einer anderen Bäckerei. Dort
spülte er sich die Finger wellig, weil sein Chef tönte, er


werde sich keine Spülmaschine anschaffen, der Lehrling
sei billiger. Inzwischen verdient er 750 Euro brutto. Seine


Freundin ist Erzieherin an einer Brennpunktschule. Ihr
Gehalt liegt weit unter dem ihrer Lehrerkolleginnen. Ihre


Wohnung koste 1000 Euro warm im Monat, sagt Busch.
Zu zweit könnten sie das stemmen. Aber Busch würde


gern bald Vater werden. »Meine Freundin aber will in
meiner Lehrzeit keine Familie. Sie ist der Überzeugung,


dass ich mir das nicht leisten kann.«
Er backe gesundes Brot, seine Freundin sorge für Kinder.


Er habe schon das Gefühl, dass sie mit ihren Berufen
»Stützen der Gesellschaft« seien. Er mache sich häufig Ge-


danken darüber, warum jemand, der Unternehmen berate
oder Risiko-Lebensversicherungen verkaufe, so viel mehr


verdiene als sie beide. »Darauf hätte ich gerne eine Ant-
wort«, sagt Busch. »Warum sind wir so niedrig gestellt?


Warum muss ich meinen Wunsch nach einer Familie hint-
anstellen oder mir einen Job suchen, der mehr abwirft?


Das kann doch nicht sein.«
Trägt man Buschs Frage zu Wissenschaftlern, die sich mit


der Entstehung von Gehältern auskennen, antworten die:
Doch, das könne sein. Löhne entstünden am Markt. Und


auf dem Markt für Backwaren beispielsweise sei die Zah-
lungsbereitschaft der Verbraucher nicht sehr hoch. Der


Lohn von Erzieherinnen allerdings sei gestiegen, die Ver-
handlungsposition vieler Fachkräfte gut. Weitere Gehalts-


steigerungen seien möglich.
Angebot und Nachfrage also. Aber mit dieser reinen Lehre


lassen sich bei Weitem nicht alle Lohnunterschiede erklä-
ren. Die Nachfrage in der Pflege oder der Gastronomie


zum Beispiel ist enorm. Die Gehälter sind dennoch nied-
rig. Die teils horrenden Sätze für Notare regelt nicht der


Markt, sondern eine gesetzliche Gebührenordnung, die
Besoldung von Beamten der Staat. Der öffentliche Dienst


reserviert die oberen Entgeltgruppen für Akademiker. Seit
2005 ist in den Dax-Unternehmen der Abstand zwischen


dem durchschnittlichen Lohn und dem Topgehalt immer
weiter gestiegen. Damals bekamen Vorstände 42-mal so


viel wie ein Arbeitnehmer mit mittlerem Einkommen, in-
zwischen ist es das 71-Fache. Lässt sich das allein mithilfe


von Angebot und Nachfrage erklären? Sind die Vorstände
in den letzten Jahren so viel besser, so viel begehrter ge-
worden? Auch Buschs Frage nach dem gesellschaftlichen
Wert von Risiko-Lebensversicherungen im Vergleich zu
gesundem Brot lässt sich nicht beantworten, wenn man
sich allein auf den Markt beruft.
David Graeber, Ethnologe an der London School of Eco-
nomics und »linker Vordenker«, wie er charakterisiert wird,
hat im vergangenen Jahr das Buch Bullshit-Jobs veröffent-
licht. Darin stellt er die These auf, viele der Tätigkeiten, die
im boomenden Verwaltungs-, Finanz-, IT- und Beratungs-
sektor anfallen, seien so unnötig, dass sogar die Beschäftigten
selbst die Existenz ihrer Stelle kaum rechtfertigen könnten.
Er zählt ein paar Extreme auf: Menschen, die in Gremien
sitzen und dort über die Abschaffung von Gremien dis-
kutieren, die Formulare ausfüllen, die niemand liest, die an
Power Point- Prä sen ta tio nen feilen, die nie gehalten werden,
die Entscheidungen vorbereiten, die nie getroffen werden.
Einer US-Studie zufolge schätzten Büroangestellte im Jahr
2016 den Anteil des Tages, den sie mit der »Ausführung
der eigentlichen Haupttätigkeit« verbringen, auf nur noch
gut ein Drittel, Tendenz sinkend. In Großbritannien ant-
worteten 37 Prozent auf die Frage »Leistet Ihre Arbeit einen
sinnvollen Beitrag zur Welt?« klar mit »Nein«.
Graeber schreibt: »Angenommen, wir würden alle eines
Morgens aufwachen und feststellen, dass nicht nur Kran-
kenschwestern, Müllarbeiter und Mechaniker verschwun-
den sind, sondern dass auch Busfahrer, Lebensmittel-
verkäufer, Feuerwehrleute und Schnellrestaurantköche in
eine andere Di men sion transportiert wurden: Die Folgen
wären katastrophal.« Selbst ohne Science-Fiction-Autoren
und Ska-Musiker würde so manchem etwas fehlen, ver-
mutet er. Dagegen sei nicht ganz klar, wie die Welt leiden
würde, wenn alle Pri vate- Equity- Mana ger, Marketing-
experten oder Versicherungsfachleute verschwänden.
»Aber gerade dort arbeiten vielfach die Menschen, die be-
sonders hohe Gehälter beziehen« – und von denen einige
zudem auf diejenigen, die sie auf die unterschiedlichste
Art umsorgen, herabblicken.
In der Bäckerei, sagt Christa Lutum, gebe es Kundinnen,
die es unangemessen fänden, dass ihr Azubi Abitur habe.
In Oberfranken macht ein Supermarktchef auf Facebook
öffentlich, was seiner Ansicht nach zunimmt: »Dieser Post
geht an die junge Mutter«, schreibt er, »welche heute vor
unserer Fleischtheke mit dem Finger auf die Verkäuferin
gezeigt hat und zu ihrem Kind sagte: ›Wenn du weiter-
hin nichts für die Schule lernst, dann stehst du auch mal
dort hinten!‹« Auch in der Kita, in der ich herumfragte,
hatte eine Fünfjährige gesagt: »Mein Papa mag Müllmann
nicht so.« Er mache, formulierte sie sorgfältig: Projekte am
Computer. Die Mama auch.
Wenn aber alle in Projekte streben, wer holt dann – um
Graebers Gedanken umzudrehen – den Müll? Wer pflegt
die Kranken? Wer steht im Schwimmbad am Beckenrand?
Wer backt das Brot? Wer löscht das Feuer?

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