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Sophie Passmann
Alles oder nichts (Folge 9): Die Deutsche Bahn zu verachten ist zu
einer Art Volkssport geworden – den unsere Kolumnistin nicht
mitmacht. Sie verteidigt die Bahn gegen ihre Kritiker. Also gegen alle
Ich weiß meine Blutgruppe nicht auswendig, aber ich kann Ihnen
gerne aus dem Kopf sagen, auf welchem Gleis der nächste ICE
von Berlin nach Köln abfährt. Ich fahre sehr viel mit der Deut
schen Bahn, das ist zwar das Gegenteil von beeindruckend, aber
ich schreibe es, um deutlich zu machen, dass ich mich mit der Ma
terie etwas auskenne, wenn ich sage: Ich finde die Deutsche Bahn
ganz fantastisch. Ich mag den logischen Aufbau der Züge im Fern
verkehr, ich mag die Steckdosen zwischen den Sitzen, ich mag die
kostenlosen Kekse, auf deren Verpackung »Lieblingsgast« steht, ich
mag den Satz »Alle in Wolfsburg Zugestiegenen die Fahrscheine
bitte«. Das Einzige, was an der Deutschen Bahn unerträglich ist,
sind die Deutschen, die mit ihr fahren.
An irgendeinem Punkt hat sich die Republik anscheinend geschlos
sen dazu entschieden, die Deutsche Bahn zu verachten, ihre Verspä
tungen und Baustellen als persönlichen Affront und als Symptom
einer großen Elitenverschwörung zu betrachten. Es ist eine Wut, die
sich durch alle Schichten der Gesellschaft zieht. Junge Akademiker
empören sich auf Twitter darüber, dass sich »ihr« Zug erdreistet,
einen Oberleitungsschaden zu haben. BusinessTypen schimpfen
ins Telefon über die unübersichtliche Wagenreihung, obwohl sie
den ExcelTabellen auf ihren LenovoLaptops nach zu urteilen
schon komplexere Systeme verstanden haben sollten. Angesoffene
Junggesellenabschiede rufen »Typisch Deutsche Bahn!« ins Abteil,
in der Hoffnung, von den Mitreisenden Bewunderung für ihre
Schlagfertigkeit zu erhalten. Die Deutschen sind der Meinung, dass
es kein größeres Leid gibt, das man einer Nation antun kann, als
eine 15 Minuten spätere Abfahrt in Hamm (Westfalen). Sie haben
außerdem große Ahnung davon, welche simplen Handgriffe nötig
wären, um all diese Mängel ein für alle Mal zu beheben. Die, die
während einer FußballWM Nationaltrainer sind, werden in einem
stehenden Zug zum Bahnvorstand.
Zugfahren wäre für uns alle viel angenehmer, wenn wir ein paar
simple Wahrheiten anerkennen könnten: Genauso, wie ein Stau sich
nicht durch Hupen auflöst, fährt die Bahn nicht weiter, weil man
den Schaffner bedroht. Die Wagenreihung ist kein Betriebsgeheim
nis, sondern steht auf jeder Anzeige an jedem Gleis; wer davon schon
überfordert ist, hat sich seine Wut auf höhere Mächte vielleicht nicht
verdient. Die Bahn wird vom jährlichen Wintereinbruch genauso
wenig überrascht wie wir von der jährlichen Hitzewelle – jammern
tun wir trotzdem alle. Wer einen wichtigen Termin wegen 20 Minu
ten Zugverspätung verpasst, hat miserabel geplant. Wer unzufrieden
mit dem Ausbau des Schienennetzes ist, kann (statt Streit mit dem
Schaffner anzuzetteln) einfach darüber nachdenken, bei der nächsten
Wahl eine Partei zu wählen, die mit dem Verkehrsministerium mehr
anstellen würde, als daraus einen Mer ce des Flag ship store zu machen.
Wir haben schon eine ziemlich gute Bahn, gemessen daran, dass nie
mand bereit ist, sich mit ihrem Ausbau, ihrer Zukunft und ihren
Klimaanlagen aus ein an der zu setzen.
In der Sozialwissenschaft gibt es übrigens ein Phänomen, das sich
confirmation bias nennt, zu Deutsch grob gesagt »Bestätigungs
fehler«. Menschen behalten Informationen und Ereignisse, die in
ihr Weltbild passen, viel besser im Gedächtnis als alles, was diesem
widerspricht. Auf die Deutsche Bahn übertragen bedeutet das: Wir
merken uns verspätete Züge, weil wir davon überzeugt sein wollen,
dass alle Züge verspätet sind. Würden wir uns über jeden pünkt
lichen Zug in diesem Land so leidenschaftlich freuen, wie wir uns
über die verspäteten ärgern, wir hätten die beste Laune der Welt.
Aber welcher Deutsche kann das schon wollen.
Foto Paula Winkler
In dieser Kolumne schreibt die Autorin und
Radio moderatorin Sophie Passmann, 25, regelmäßig
über Dinge, die sie entweder mag oder eben nicht