Focus - 10.08.2019

(Sean Pound) #1

KULTUR


104 FOCUS 33/2019


odel und Schauspielerin Indya
Moore hat sich in Vorahnung auf das
düstere Schicksal ein Trauerkleid über-
gezogen, das so üppig ist, dass ein Diener
die Schleppe tragen muss. Schauspiele-
rin Kristen Stewart hat sich zum Text-
studium kurz auf den Tisch gelegt. Die
Flamenco-Sängerin Rosalía scheint Wil-
liam Shakespeares Liebesdrama von Ita-
lien kurzerhand nach Spanien verlegt zu
haben, während Schauspielerin Emma
Watson die Rolle so interpretiert, dass
sie der klassischen Vorstellung der Figur
wahrscheinlich am nächsten kommt.
„Looking for Juliet“, „Auf der Suche
nach Julia“, lautet das Motto des Pirel-
li-Kalenders 2020. Fotograf Paolo Rover-
si fand, die Doppelung in der Jahres-
zahl verbinde die Vergangenheit und
die Zukunft, und Julia als Verkörperung
der ewigen Liebe symbolisiere dies am
eindrücklichsten. Seine Motive für „The
Cal“, wie die legendäre Fotoproduktion
des italienischen Reifenherstellers unter
Kennern heißt, inszenierte er deshalb als
ein Casting für die Rolle der Julia.
Roversi, Jahrgang 1947, ein Veteran
der Modefotografie, wurde in den Acht-
zigern mit Kampagnen für Christian Dior
und Yohji Yamamoto berühmt. Er ist der
erste Italiener, den man mit der Produk-
tion des Kalenders beauftragt hat, der
seit 1964 erscheint. Erstmals wird es auch
einen Kurzfilm geben, der die Suche
nach der „Julia 2020“ dokumentiert.


Wirklich bemerkenswert ist, wie weit
Roversi die Idee von Shakespeares Julia
fasst. Sie kann in ihrer brennenden Lei-
denschaft so herrlich desinteressiert wir-
ken wie eben Kristen Stewart. Sie kann
afroamerikanische und iranische Wur-
zeln haben wie die Schauspielerin Yara
Shahidi. Oder eine androgyne chinesi-
sche Popsängerin wie Chris Lee sein. So
wunderschön melancholisch aussehen
wie Indya Moore, die erste Transfrau
in der Kalender-Geschichte. Julia kann
also jede Form von Weiblichkeit anneh-
men – nur das 13-jährige Mädchen, das
Shakespeare sich vor mehr als 400 Jah-
ren ausgedacht hat, wäre in höchstem
Maße unangemessen.
Die Teilnehmerinnen wählte Roversi
selbst aus, erzählt er während des Shoo-
tings in Paris. „Meine Wunschliste war
länger, aber viele mussten Filme drehen
oder Konzerte geben.“ Dabei ist es kaum
vorstellbar, dass seine Julias noch promi-
nenter hätten sein können: Zu sehen sind
acht Stars und Roversis Tochter Stella,
eine Künstlerin. Aus dem Hause Pirelli
heißt es, dass man die Models nicht mit
Geld vor die Kamera lockt, sondern allein
das Image des Kalenders zählt. Die Teil-
nahme wird als Ehre empfunden. Lag
der Schwerpunkt in der Anfangszeit
noch auf Erotik, ist man inzwischen ganz
bei populärer Fotokunst angelangt, die
zuletzt Stars wie Annie Leibovitz, Peter
Lindbergh und Albert Watson schufen.
Den Kalender gibt es dabei nicht ein-
mal zu kaufen: Er wird ausschließlich
verschenkt. Wer zum Jahresende eines
der 20 000 Exemplare bekommt, ist ent-
weder berühmt oder wichtig – oder
er stellt fest, dass er sehr viele Reifen
gekauft haben muss. n

Kristen Stewart

Der italienische Fotokünstler
Paolo Roveri gewann auch
die britische Schauspielerin
Claire Foy („The Crown“)
für sein Pirelli-Shooting

„Looking for Juliet“ für


den Pirelli-Kalender 2020:


Stars interpretieren


Shakespeares Julia neu

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