Focus - 10.08.2019

(Sean Pound) #1
ich finde, Carsten Linnemann hat sich
um unser Land verdient gemacht. Mit
seinen klaren Worten – „Ein Kind, das
kaum Deutsch spricht und versteht, hat
auf einer Grundschule noch nichts zu
suchen“ – hat er dem Thema die Auf-
merksamkeit verschafft, die es braucht.
So gesehen, kann Linnemann seinen Kri-
tikern sogar dankbar sein, die mit zum
Teil ehrabschneidenden Äußerungen
über ihn diese Aufmerksamkeit erheblich
gesteigert haben. Carsten Linnemann ist
Profi genug, um das zu wissen.
„Stimmenfang im rechten Sumpf“,
„Zum Fremdschämen“, „Rhetorik der
Ausgrenzung“ – das war der Sound der
Hysterie. Doch die Kritik sagt mehr über
die Kritiker als über den Kritisierten aus.
Hier ist ein Ausmaß an Realitätsabschot-
tung zu beobachten, das einen staunen
lässt. Carsten Linnemann hat eine Wahr-
heit ausgesprochen: Wenn Kinder – ob mit
oder ohne Migrationshintergrund – wenig
oder gar kein Deutsch sprechen, sollten
sie nicht eingeschult werden. Denn in
der Grundschule gehört das Verstehen
und Sprechen der deutschen Sprache
zur Grundvoraussetzung, um erfolgreich
am Unterricht teilzunehmen. Es ist also
im wohlverstandenen Interesse dieser
Kinder, zunächst in konzentrierter Form
ausreichende deutsche Sprachkenntnisse
zu erwerben.
Viel zu kurz in der erregten Diskus-
sion kommt für mich ein anderer Aspekt:
Unbestreitbar führt die Anwesenheit von
mehreren Schülern mit unzureichenden
Deutschkenntnissen dazu, dass der Lern-
erfolg der gesamten Klasse gebremst,
wenn nicht gar gefährdet wird. Das aber
kann sich ein Land nicht leisten, dessen
Arbeitgeber immer lauter über mangel-
hafte Deutsch- und Mathekenntnisse
der Schulabgänger klagen. Das Wissen
und die Fähigkeiten unserer Kinder sind
der wichtigste Zukunftsrohstoff unse-
res Landes. Es ist daher im Interesse
von allen, wenn unsere Kinder auf den
Schulen genug lernen, um im Leben zu
bestehen und das Land voranzubringen.

Wenn dafür die Bildungsausgaben erhöht
werden müssen, dann sollten wir das
ganz schnell tun. Es gibt nichts, das wich-
tiger wäre!

Was macht die Politik nun aus der Lin-
nemann-Debatte? Nutzt sie die Chance?
Oder bleiben die Worte nur bewegte Luft?
Veränderung entsteht oft nur im Leidens-
druck. Wer Neues beginnen will, muss
sich von Altem lösen. Das gilt für politi-
sche Reformprozesse ebenso wie für pri-
vate Entscheidungen. Noch einmal anzu-
fangen, neu durchzustarten – darum geht
es in unserer Titelgeschichte, die vom
Glück der zweiten Chance erzählt. Lesen
Sie sie ab Seite 60.

Die Möglichkeit für einen Neuanfang er-
hielt auch unser Land. Das ist bald 30 Jahre
her und klang so: „Nach meiner Kennt-
nis ist das sofort, unverzüglich“ – das
sind die Worte, die das Glück zur zweiten
Chance in Deutschland einleiteten, den
Fall der Mauer. Zögerlich und irgendwie
beiläufig vorgetragen von SED-Funktio-
när Günter Schabowski am 9. November
1989, kurz vor 19 Uhr. Die Öffnung der
innerdeutschen Todesgrenze war nicht
nur für unsere Heimat eine große Chance,
sondern auch für Millionen Menschen,
die sich über Nacht komplett neu erfin-
den mussten.
Was zusammengehört, ist längst noch
nicht überall zusammengewachsen. Und
zum Deutschland der zweiten Chance
gehören inzwischen auch die vielen Men-
schen, die sich aufgemacht haben und ihr
Glück bei uns suchen. Sie werden es nur
finden, wenn sie richtig integriert sind.
Auch darum ist die Linnemann-Debatte
so wichtig und richtig.

Fotos: Peter Rigaud/FOCUS-Magazin, Daniel Hofer/laif, dpa

FOCUS 33/2019 3

EDITORIAL

Herzlich Ihr

Von Robert Schneider, Chefredakteur

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

Carsten Linnemann aus Paderborn
Er ist 42 Jahre alt, Fraktionsvize der Union
im Bundestag, Sohn eines Buchhändlers

Lassen Sie uns über


Chancen sprechen


Im Haus der Geschichte in Bonn zu sehen
Der Zettel, von dem Schabowski die Regelung
für DDR-Bürger für Reisen in den Westen ablas

AB ��. AUGUST


SAMSTAGS 18∶00 Uhr


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