Focus - 10.08.2019

(Sean Pound) #1
AUSLAND

FOCUS 33/2019 43


Ausgebremst
Sicherheits-
kräfte zerren
Sobol in einen
Polizeiwagen
und halten
sie anschlie-
ßend stunden-
lang fest

Und sie startete ihre eigene Sendung, eine
Art politischen Faktencheck, der bis zu
300 000 Viewer hat. Sobol gilt manchen
wohl als das sympathischere Aushänge-
schild der Nawalny-Organisation, deren
Gründer wegen seiner rassistischen und
autoritären Attitüde umstritten ist.


Die Machtfrage


Der Politologe Abbas Galljamow, ein
ehemaliger Redenschreiber für Präsident
Wladimir Putin, hat nach den jüngsten
Moskauer Protesten eine „revolutionäre
Situation“ ausgemacht. „Alle wissen,
dass es um die Macht geht.
Die Protestierenden fordern
die Regierung heraus: Ent-
weder ihr beteiligt uns, oder
wir erkennen euch nicht an.“
Das repressive Vorgehen der
Behörden mobilisierte viele
Bürger, die sonst nicht auf die
Straße gegangen wären. Aller-
dings glaubt auch Galljamow
nicht, dass sich das Regime
vor 2024 ändert. Dann wird
sich entscheiden, ob Putin aufs
Neue die Verfassung manipu-
liert, um ein drittes Mal hin-
tereinander Präsident werden
zu können, oder ob er einen
Nachfolger präsentiert.
Für eine Radikalisierung wie
auf dem Maidan in Kiew sieht
der Protestforscher Mischa


Gabowitsch schon gar keine Anhalts-
punkte, auch wenn die Behörden das zu
fürchten scheinen. Gabowitsch, der ge -
rade in Moskau war und seit Jahren
Proteste in Russland analysiert, verweist
eher auf sehr langfristige Folgen: dass
mehr Russen mutiger würden und sich
gegen staatliche wie gesellschaftliche Zu-
stände wehrten. Schon jetzt protestieren
viele im ganzen Land gegen konkrete
Missstände: gegen Nickelabbau, Lkw-
Maut, Rentenreform, Lohnrückstände
oder Enteignung. Gabowitsch hält es
für das Wunschdenken liberaler Medien
und Oppositioneller in Russ-
land, die sozialen Anliegen mit
politischen Systemänderungen
verbinden zu können.
Für Gabowitschs Ansicht
spricht, dass Putins Rating zwar
auf ein Allzeittief um 60 Pro-
zent gesunken ist, er aber im-
mer noch als der populärste
Politiker gilt. Allerdings ist
seine Partei Einiges Russland
mittlerweile so verhasst, dass
sich deren Kandidaten bei der
Hauptstadtwahl nicht mehr
outen, sondern als Unabhän-
gige antreten – wie der Mos-
kauer Partei- und Vize-Parla-
mentschef Andrej Metelskij.
Dessen Familie und Freunden
wirft Nawalny vor, sich Immo-
bilien im Wert von 80 Millionen

Euro angeeignet zu haben, darunter eine
Villa in Wien und Hotels in Tirol. Eini-
ges Russland würde nach Schätzungen
höchstens 13 Prozent bekommen. Kein
Wunder, dass die Regierenden Kandida-
ten wie Sobol verhindern wollen, auch
wenn das Stadtparlament nicht allzu viel
zu sagen hat. Die Opposition soll mög-
lichst keine öffentliche Plattform mehr
für ihre Forderungen bekommen, nach-
dem es ihr 2017 gelungen war, rund
ein Drittel der Sitze bei den Moskauer
Bezirkswahlen zu erringen.
Die Aussichten sind für Sobol also nicht
allzu rosig. Dennoch ruft sie für die kom-
menden Samstage zu weiteren Demons-
trationen auf. „Mich und meine Arbeit
treibt ein simples Ziel an: Ich möchte
Gerechtigkeit in unserem Land, ich möch-
te, dass wir die Verfassung einhalten.“ Die
Risiken, die die Verfolgung dieses Ziels
bedeuten, scheut sie offenbar nicht. Ihrem
Mann, dem Soziologen Sergej Mochow,
hatten Unbekannte vor zwei Jahren eine
Spritze mit einer psychotropen Substanz
in den Körper gerammt, sodass er das
Bewusstsein verlor.
„Ich habe meine Arbeit nie durch eine
rosarote Brille gesehen“, sagt Sobol. „Na-
türlich habe ich Angst um meine Tochter,
aber deswegen mache ich das ja auch alles
hier, damit sie in einem besseren Land
aufwächst.“ n

GUDRUN DOMETEIT

»
Mich treibt
ein simples
Ziel an:
Ich möchte
Gerechtig-
keit in
unserem
Land

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Ljubow Sobol
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